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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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sich das
    Vorbeigehen eines Mitgliedes der Zarenfamilie zunutze machte und ihm entschlüpfte.
    Als Alexei Alexandrowitsch allein geblieben war, suchte er, den Kopf senkend, seine Gedanken zu sammeln; dann
    blickte er zerstreut um sich und ging nach der Tür zu, wo er die Gräfin Lydia Iwanowna zu treffen hoffte.
    ›Wie kräftig und gesund diese Leute alle in körperlicher Hinsicht sind‹, dachte Alexei Alexandrowitsch beim
    Anblick des mächtig großen Kammerherrn mit dem auseinandergekämmten parfümierten Backenbarte und des in seine
    Uniform eingezwängten Fürsten mit dem roten Halse, an denen er vorbeigehen mußte.›Es ist ein wahres Wort, daß die
    ganze Welt im argen liegt‹, dachte er, da er den Gesprächsstoff der Herren ahnte, und richtete auch nach den Waden
    des Kammerherrn noch einen schielenden Blick.
    Langsam dahinschreitend, grüßte Alexei Alexandrowitsch mit seiner gewohnten müden, würdevollen Miene diese
    Herren, die sich über ihn unterhielten, und blickte dann nach der Tür und suchte mit den Augen die Gräfin Lydia
    Iwanowna.
    »Ah, Alexei Alexandrowitsch!« sagte der kleine alte Herr, in dessen Augen es boshaft aufleuchtete, als Karenin
    in seine Nähe gekommen war und mit kühler Höflichkeit den Kopf neigte. »Ich habe Sie noch nicht beglückwünscht«,
    fuhr er fort, auf das neu erhaltene Ordensband deutend.
    »Ich danke Ihnen«, erwiderte Alexei Alexandrowitsch. »Welch ein schöner Tag heute«, fügte er hinzu, wobei er
    nach seiner Gewohnheit einen besonderen Ton auf das Wort »schön« legte.
    Er wußte, daß sie sich über ihn lustig machten, und erwartete von ihrer Seite auch gar nichts anderes als
    Feindseligkeiten; daran war er schon gewöhnt.
    In diesem Augenblick gewahrte er die aus dem Korsett sich heraushebenden gelben Schultern der Gräfin Lydia
    Iwanowna, die gerade in die Tür trat, und ihre schönen, schwärmerischen Augen, die ihn zu sich riefen; Alexei
    Alexandrowitsch lächelte, so daß seine noch tadellosen weißen Zähne sichtbar wurden, und ging auf sie zu.
    Auf ihr Äußeres hatte Lydia Iwanowna, wie in der letzten Zeit stets, große Mühe verwendet. Sie bezweckte bei
    ihrer Kleidung jetzt etwas ganz anderes, als sie dreißig Jahre früher dabei im Auge gehabt hatte. Damals war es ihr
    eine Lust gewesen, sich mit irgend etwas zu putzen, und je mehr, um so besser. Jetzt dagegen mußte sie nach den
    Geboten des Hofes und der Mode Kleider tragen, die so wenig zu ihren Jahren und zu ihrer Gestalt paßten, daß ihr
    Streben nur darauf gerichtet war, den Gegensatz zwischen diesen Kleidern und ihrem Äußeren einigermaßen
    herabzumildern. Und bei Alexei Alexandrowitsch erreichte sie diesen Zweck, sie erschien ihm anziehend. Für ihn war
    sie inmitten dieses Meeres von Feindseligkeit und Spott, das ihn umgab, die einzige Insel des Wohlwollens, ja mehr
    noch, der Liebe.
    Während er zwischen den spöttischen Blicken, die sich auf ihn richteten, wie durch eine Spießrutengasse
    dahinschritt, strebte er naturgemäß ihrem verliebten Blick entgegen wie die Pflanze dem Licht.
    »Ich gratuliere Ihnen«, sagte sie zu ihm, mit den Augen auf das Ordensband hinweisend.
    Ein Lächeln der Befriedigung unterdrückend, zuckte er mit den Achseln und schloß die Augen, als wollte er sagen,
    so etwas könne ihm keine Freude machen. Aber die Gräfin Lydia Iwanowna wußte ganz genau, daß dergleichen eine
    außerordentlich große Freude für ihn war, wenn er es auch niemals eingestand.
    »Was macht unser Engel?« fragte die Gräfin Lydia Iwanowna; mit dieser Bezeichnung meinte sie den kleinen
    Sergei.
    »Ich kann nicht sagen, daß ich völlig mit ihm zufrieden wäre«, versetzte Alexei Alexandrowitsch, indem er die
    Brauen in die Höhe zog und die Augen weit öffnete. »Auch Sitnikow ist mit ihm unzufrieden.« (Sitnikow war der
    Erzieher, der Sergeis Ausbildung mit Ausnahme des Religionsunterrichtes zu leiten hatte.) »Wie ich Ihnen schon
    neulich sagte, zeigt er eine gewisse Gleichgültigkeit gerade den wichtigsten Fragen gegenüber, die die Seele eines
    jeden Menschen und auch eines jeden Kindes beschäftigen müssen«, begann Alexei Alexandrowitsch seine Gedanken über
    den einzigen Gegenstand, der ihn, abgesehen von der amtlichen Tätigkeit, jetzt noch interessierte, darzulegen.
    Nachdem Alexei Alexandrowitsch sich mit Lydia Iwanownas Beihilfe dem Leben und der Tätigkeit von neuem zugewandt
    hatte, hatte er es als seine Pflicht empfunden, sich mit der Erziehung des in seinen Händen

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