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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Frage habe ich nicht gedacht«, antwortete Alexei Alexandrowitsch, der ihr augenscheinlich
    recht gab.
    Die Gräfin Lydia Iwanowna bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und schwieg eine Zeitlang. Sie betete.
    »Wenn Sie mich um Rat fragen«, sagte sie, nachdem sie ihr Gebet beendet und ihr Gesicht wieder frei gemacht
    hatte, »so rate ich Ihnen, es nicht zu tun. Ich sehe ja, wie Sie leiden, wie dies alle Ihre Wunden wieder
    aufgerissen hat; aber freilich, Sie denken, wie immer, nicht an sich selbst. Aber wozu kann denn eine solche
    Wiederbegegnung führen? Doch nur zu neuen Leiden für Sie und zu Qualen für das Kind. Wenn sie noch eine Spur von
    menschlichem Empfinden besäße, so dürfte sie selbst einen solchen Wunsch nicht haben. Nein, ich rate Ihnen ohne
    jedes Schwanken davon ab, und wenn Sie mich dazu ermächtigen, so werde ich es ihr schreiben.«
    Alexei Alexandrowitsch gab seine Zustimmung, und die Gräfin Lydia Iwanowna schrieb in französischer Sprache
    nachstehenden Brief:
    »Gnädige Frau! Die Erinnerung an Sie könnte Ihren Sohn zu Fragen veranlassen, die man nicht würde beantworten
    können, ohne daß die Seele des Kindes in die furchtbare Lage käme, verdammen zu müssen, was ihr ein Heiligtum
    bleiben soll, und daher bitte ich Sie, die abschlägige Antwort Ihres Gatten im Geiste der christlichen Liebe
    aufzufassen. Ich bitte den Allmächtigen um Barmherzigkeit für Sie.
    Gräfin Lydia.«
    Dieser Brief erreichte den geheimen Zweck, den die Gräfin nicht einmal sich selbst eingestehen mochte: er
    verletzte Anna in tiefster Seele.
    Alexei Alexandrowitsch seinerseits war, nachdem er von Lydia Iwanowna nach Hause zurückgekehrt war, nicht
    imstande, sich an diesem Tage seinen gewohnten Beschäftigungen zu widmen und jenen Seelenfrieden des gläubigen und
    erlösten Menschen, den er vorher empfunden hatte, wiederzufinden.
    Die Erinnerung an seine Frau, die sich so schwer an ihm versündigt hatte, und der er, wie die Gräfin Lydia
    Iwanowna ihm mit Recht versicherte, als ein Heiliger gegenüberstand, hätte ihn eigentlich nicht aufzuregen
    brauchen; aber dennoch war er nicht ruhig: er war nicht imstande, das Buch, das er las, zu verstehen, nicht
    imstande, die quälenden Erinnerungen an sein Verhältnis zu ihr und an die Fehler, die er, wie es ihm jetzt schien,
    ihr gegenüber begangen hatte, zu verscheuchen. Die Erinnerung daran, wie er bei der Rückkehr vom Wettrennen das
    Geständnis ihrer Untreue aufgenommen hatte, und namentlich, daß er nur von ihr die Wahrung des äußeren Anstandes
    verlangt und den Zerstörer seines Familienlebens nicht zum Zweikampf gefordert hatte, marterte ihn mit bitterer
    Reue. Auch die Erinnerung an den Brief, den er an sie geschrieben hatte, quälte ihn; und ganz besonders erfüllte
    der Gedanke, daß er eine Verzeihung gewährt hatte, die niemandem Bedürfnis war, und daß er so liebevoll für das
    fremde Kind gesorgt hatte, sein Herz mit einem brennenden Gefühl von Scham und Reue.
    Und das gleiche Gefühl von Scham und Reue empfand er jetzt, wenn er aus seiner ganzen Vergangenheit seine
    Beziehungen zu Anna vor seinem geistigen Auge vorüberziehen ließ und der ungeschickten Worte gedachte, mit denen er
    einst nach langem Schwanken ihr einen Heiratsantrag gemacht hatte.
    ›Aber inwiefern trage ich eine Schuld?‹ fragte er sich. Und diese Frage rief bei ihm immer noch eine andere
    Frage hervor, nämlich ob wohl andere Leute, Leute wie dieser Wronski oder wie dieser Oblonski oder wie dieser
    Kammerherr mit den dicken Waden, in anderer Weise empfänden, in anderer Weise liebten, in anderer Weise heirateten.
    Er vergegenwärtigte sich eine ganze Reihe solcher gesunder, starker, selbstbewußter Männer, die unwillkürlich schon
    immer und überall seine neugierige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Er wies diese Gedanken von sich, er gab
    sich Mühe, in sich die Überzeugung lebendig zu machen, daß er nicht für das irdische, zeitliche Leben, sondern für
    das ewige Leben lebe und daß in seiner Seele Friede und Liebe wohne. Aber der Gedanke, daß er in diesem zeitlichen,
    nichtigen Leben, wie ihm schien, einige nichtige Fehler begangen habe, quälte ihn doch so, als wäre jene ewige
    Erlösung, an die er glaubte, nicht vorhanden. Indessen war diese Anfechtung nicht von langer Dauer, und bald
    herrschte in Alexei Alexandrowitschs Seele wieder jene edle Ruhe und jene erhabene Anschauungsweise, mit deren
    Hilfe er das vergessen konnte, woran er sich nicht erinnern

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