Anna Karenina
ihm der Brief gezeigt würde, die Rolle des Großmütigen weiter durchführen und ihr keine abschlägige
Antwort erteilen werde.
Der Hoteldiener, der den Brief hingetragen hatte, brachte ihr die grausamste und von ihr am wenigsten erwartete
Antwort zurück, nämlich, daß keine Antwort erfolge. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt wie in dem
Augenblick, als sie den Hoteldiener hatte zu sich ins Zimmer kommen lassen und nun dessen eingehenden Bericht
anhörte, wie er eine Weile habe warten müssen und ihm dann bestellt worden sei: »Eine Antwort erfolgt nicht.« Anna
fühlte sich gedemütigt und beleidigt; aber sie sah ein, daß die Gräfin Lydia Iwanowna von ihrem Standpunkt aus
recht habe. Ihr Schmerz war um so größer, da sie ihn allein für sich trug. Sie konnte und wollte ihn nicht mit
Wronski teilen. Sie wußte, daß, obwohl er die Hauptursache ihres Unglücks war, ihm die Frage des Wiedersehens mit
ihrem Sohne als recht geringfügig erschien. Sie wußte, daß er niemals imstande sein werde, die ganze Tiefe ihres
Leidens zu verstehen; sie wußte, daß sie ihn wegen des kalten Tones, dessen er sich beim Gespräche über diesen
Gegenstand bedienen würde, hassen müßte. Und das fürchtete sie mehr als alles auf der Welt, und darum verbarg sie
vor ihm alles, was ihren Sohn betraf.
Sie blieb den ganzen Tag zu Hause und sann über ein Mittel nach, wie sie ihren Sohn wiedersehen könne; zuletzt
blieb sie bei dem Entschlusse stehen, an ihren Mann zu schreiben. Sie hatte diesen Brief bereits abgefaßt, als ihr
Lydia Iwanownas Antwort überbracht wurde. Das Schweigen der Gräfin hatte sie gedemütigt und niedergedrückt; aber
dieser Brief und alles, was sie zwischen seinen Zeilen las, versetzte sie in solche Empörung und diese Bosheit
gegenüber ihrer leidenschaftlichen, berechtigten Liebe zu ihrem Sohne erschien ihr so abscheulich, daß ihr Ingrimm
sich gegen die anderen Menschen aufbäumte und sie aufhörte, sich selbst anzuklagen.
›Diese eisige Kälte! Und dabei diese Gefühlsheuchelei!‹ sagte sie zu sich selbst. ›Sie wollen weiter nichts als
mich beleidigen und das Kind quälen. Und ich sollte mich ihnen fügen? Nimmermehr! Dieses Weib ist schlechter als
ich. Ich lüge wenigstens nicht.‹ Und auf der Stelle faßte sie den Entschluß, gleich morgen, an Sergeis Geburtstage,
geradeswegs nach dem Hause ihres Mannes zu fahren, die Dienerschaft zu bestechen oder zu täuschen, aber unter allen
Umständen ihren Sohn wiederzusehen und dieses abscheuliche Lügengewebe, mit dem sie das unglückliche Kind umgeben
hatten, zu zerreißen.
Sie fuhr nach einem Spielwarengeschäft, kaufte Spielzeug und legte sich einen Plan zurecht. Sie wollte
frühmorgens, um acht Uhr, wo Alexei Alexandrowitsch sicherlich noch nicht aufgestanden war, hinkommen, schon mit
dem Gelde in der Hand, das sie dem Pförtner und dem Diener geben wollte, damit sie sie hineinließen, und wollte,
ohne den Schleier in die Höhe zu nehmen, sagen, sie komme von dem Paten Sergeis, um ihm zu gratulieren, und es sei
ihr aufgetragen, die Spielsachen neben das Bett des Knaben zu legen. Nur was sie ihrem Sohn sagen wollte, hatte sie
sich nicht zurechtgelegt; soviel sie auch darüber nachdachte, so konnte sie doch nichts aussinnen.
Am andern Morgen fuhr Anna allein in einer Droschke hin; um acht Uhr war sie am Haupteingang ihres früheren
Hauses, stieg aus und klingelte.
»Geh mal hin und sieh, wer da ist. Eine fremde Dame«, sagte Kapitonütsch, der, noch nicht angekleidet, im
Überzieher und in Gummischuhen, durch das Fenster eine verschleierte Dame gesehen hatte, die dicht an der Tür
stand. Der Gehilfe des Pförtners, ein junger Mensch, den Anna nicht kannte, hatte ihr kaum die Tür geöffnet, als
sie auch schon eintrat, schnell einen Dreirubelschein aus dem Muff zog und ihm in die Hand schob.
»Zu Sergei ... zu Sergei Alexejewitsch ...«, sagte sie undeutlich und ging weiter vorwärts. Der Gehilfe des
Pförtners betrachtete die Banknote, hielt aber Anna bei der zweiten Tür, der Glastür, an.
»Zu wem wollen Sie?« fragte er.
Sie hatte seine Frage gar nicht verstanden und gab keine Antwort.
Kapitonütsch, der die Verlegenheit der Unbekannten bemerkt hatte, kam nun selbst zu ihr heraus, ließ sie durch
die Tür hindurch und fragte, was sie wünsche.
»Ich habe vom Fürsten Skorodumow etwas an Sergei Alexejewitsch auszurichten«, erwiderte sie leise.
»Der junge Herr ist noch nicht aufgestanden«,
Weitere Kostenlose Bücher