Anna Karenina
versetzte der Pförtner und blickte sie forschend an.
Anna hatte in keiner Weise erwartet, daß die ganz unverändert gebliebene Einrichtung der Vorhalle dieses Hauses,
in dem sie neun Jahre gewohnt hatte, ihr einen so tiefen Eindruck machen werde. Erinnerungen teils freudigen, teils
schmerzlichen Charakters wurden eine nach der andern in ihrer Seele rege, und sie vergaß für einen Augenblick ganz,
zu welchem Zweck sie da war.
»Möchten Sie vielleicht einen Augenblick warten?« fragte Kapitonütsch, indem er ihr den Pelz abnahm. Hierauf sah
er ihr ins Gesicht, erkannte sie und machte ihr schweigend eine tiefe Verbeugung.
»Bitte gehorsamst, Euer Exzellenz«, sagte er.
Sie wollte etwas sagen; aber ihre Stimme weigerte sich, irgendeinen Laut hervorzubringen; sie warf dem alten
Manne einen flehenden, schuldbewußten Blick zu und ging dann mit schnellen, leichten Schritten die Treppe hinauf.
Ganz vornübergebeugt, mit den Gummischuhen an den Stufen anstoßend, lief Kapitonütsch hinter ihr her, bemüht, ihr
zuvorzukommen.
»Der Hofmeister ist bei ihm und ist vielleicht noch nicht angekleidet. Ich werde anmelden.«
Anna eilte die ihr so wohlbekannte Treppe weiter hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte sagte.
»Hierher, bitte gehorsamst, nach links. Verzeihen Sie, daß noch nicht rein gemacht ist. Der junge Herr wohnt
jetzt in dem früheren Sofazimmer«, sagte der Pförtner, der ganz außer Atem war. »Belieben Euer Exzellenz einen
Augenblick zu verziehen; ich werde nachsehen«, fuhr er fort, öffnete, an ihr vorbeieilend, eine hohe Tür und
verschwand dahinter. Anna blieb stehen und wartete. »Der junge Herr ist eben aufgewacht«, sagte der Pförtner, der
wieder aus der Tür herauskam.
Und in dem Augenblicke, wo der Pförtner das sagte, hörte Anna den Ton eines kindlichen Gähnens. An dem bloßen
Klange dieses Gähnens erkannte sie ihren Sohn und glaubte, ihn leibhaftig vor sich zu sehen.
»Laß mich, laß mich, geh nur!« sagte sie und schritt durch die hohe Tür. Rechts von der Tür stand das Bett, und
auf dem Bette saß, halb aufgerichtet, der Knabe, im bloßen, aufgeknöpften Hemd; sein Körperchen krümmend und
streckend, brachte er gerade sein Gähnen zum Abschluß. In dem Augenblick, wo seine Lippen sich wieder
zusammenschlossen, bildete sich auf ihnen ein seliges, schläfriges Lächeln, und mit diesem Lächeln sank er wieder
langsam und wonnig auf das Kissen zurück.
»Sergei!« flüsterte sie, indem sie unhörbar an sein Bett herantrat.
Während sie von ihm getrennt gewesen war und namentlich in der letzten Zeit, wo die Sehnsucht nach ihm so
mächtig in ihr geworden war, hatte sie ihn sich immer als vierjährigen Knaben vorgestellt, da dies das Alter war,
in dem sie ihn am allermeisten geliebt hatte. Jetzt aber war er nicht einmal mehr der, der er gewesen war, als sie
ihn verließ; er hatte sich noch weiter von dem Bilde des Vierjährigen entfernt, war seit der Trennung noch mehr
gewachsen und magerer geworden. Wie er aussah! Wie mager sein Gesicht, wie kurzgeschnitten sein Haar! Wie lang
seine Arme! Wie hatte er sich verändert, seit sie ihn verlassen hatte! Aber doch war er es, mit seiner Kopfform,
mit seinen Lippen, mit seinem weichen Hälschen und den breitgebauten Schulterchen.
»Sergei!« sagte sie noch einmal dicht über dem Ohr des Kindes.
Er richtete sich wieder auf den einen Ellbogen auf, drehte den zerzausten Kopf nach beiden Seiten, wie wenn er
etwas suchte, und öffnete die Augen. Still und fragend blickte er einige Sekunden lang die regungslos vor ihm
stehende Mutter an; dann lächelte er auf einmal glückselig und ließ sich, die schlaftrunkenen Augen wieder
schließend, hinsinken, aber nicht rückwärts, sondern zu ihr hin, in ihre Arme.
»Sergei! Mein lieber Junge!« flüsterte sie, mühsam atmend, und schlang ihre Arme um seinen weichen Körper.
»Mama!« sagte er leise und bewegte sich unter ihren Händen, um mit recht vielen Teilen seines Körpers ihre Arme
zu berühren.
Schlaftrunken lächelnd, immer noch mit geschlossenen Augen, hob er sich mit seinen weichen Händen an der
Kopfwand des Bettes in die Höhe, griff dann von da nach den Schultern seiner Mutter, lehnte sich an sie, indem er
sie mit jenem angenehmen, warmen Dufte umgab, wie er nur bei schlafenden Kindern vorkommt, und begann sich mit dem
Gesichte an ihrem Halse und an ihren Schultern zu reiben.
»Ich habe es gewußt«, sagte er und öffnete die Augen. »Heute ist mein Geburtstag.
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