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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Ich habe es gewußt, daß du
    kommen würdest. Nun will ich gleich aufstehen.«
    Aber während er das sagte, schlief er wieder ein.
    Anna verschlang seine Gestalt mit den Augen; sie sah, wie er in ihrer Abwesenheit gewachsen war und sich
    verändert hatte. Sie erkannte, und erkannte auch nicht, seine nackten, jetzt so großen Füße, die unter der
    Bettdecke hervorschauten; sie erkannte diese mager gewordenen Backen, diese abgeschnittenen, kurzen Haarlöckchen im
    Nacken, auf den sie ihn so oft geküßt hatte. Sie betastete das alles und vermochte nichts zu sagen: die Tränen
    erstickten sie.
    »Worüber weinst du denn, Mama?« fragte er, nun völlig wach geworden. »Mama, worüber weinst du?« rief er mit
    weinerlicher Stimme.
    »Ich will nicht mehr weinen ... Ich weine vor Freude. Ich habe dich so lange nicht gesehen. Ich will nicht mehr
    weinen, nein, nein«, sagte sie, verschluckte ihre Tränen und wandte sich ab. »Aber nun wird es Zeit, daß du dich
    anziehst«, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu, als sie sich wieder gefaßt hatte, und setzte sich, ohne seine
    Hand loszulassen, neben seinem Bett auf den Stuhl, auf dem seine Kleider lagen.
    »Wie machst du es nur, dich ohne mich anzuziehen? Wie ...« Sie wollte in unbefangenem, munterem Tone reden, aber
    sie brachte es nicht fertig und wandte sich wieder weg.
    »Ich wasche mich nicht mehr mit kaltem Wasser; Papa hat es verboten. Aber hast du Wasili Lukitsch noch nicht
    gesehen? Er wird gleich kommen. Aber du hast dich ja auf meine Kleider gesetzt!«
    Sergei lachte laut auf. Sie sah ihn an und lächelte.
    »Mama, liebe, einzige Mama!« rief er, warf sich von neuem gegen sie und umarmte sie, als wenn er erst jetzt beim
    Anblick ihres Lächelns klar begriffen hätte, was geschehen war. »Den brauchst du hier doch nicht«, sagte sie, indem
    er ihr den Hut abnahm. Und als ob er sie nun, wo sie keinen Hut aufhatte, eben erst erblickte, begann er wieder,
    sie stürmisch zu küssen.
    »Aber was hast du denn über mich gedacht? Du hast doch nicht gedacht, daß ich gestorben wäre?«
    »Nein, das habe ich nicht gedacht.«
    »Das hast du nicht geglaubt, mein Junge?«
    »Ich habe es gewußt, ich habe es gewußt!« wiederholte er seinen Lieblingsausdruck. Er fing ihre Hand, die sein
    Haar streichelte, drückte deren Innenseite gegen seinen Mund und küßte und küßte sie.

30
    Unterdessen hatte Wasili Lukitsch, der anfangs gar nicht gewußt hatte, wer diese Dame war, aus dem Gespräch
    entnommen, daß es die Mutter des Knaben war, die ihren Mann verlassen hatte und die er nicht kannte, da er erst
    nach ihrer Zeit in das Haus gekommen war; er war nun in Zweifel, ob er hineingehen sollte oder nicht oder ob er
    Alexei Alexandrowitsch Mitteilung machen sollte. Schließlich sagte er sich, seine Pflicht fordere nur, daß er
    Sergei zu einer bestimmten Stunde wecke; er habe daher nicht zu prüfen, wer bei dem Knaben sitze, die Mutter oder
    sonst jemand; aber seine Pflicht müsse er erfüllen. So kleidete er sich denn an, ging zur Tür und öffnete sie.
    Aber die Liebkosungen, die Mutter und Sohn austauschten, und der Klang ihrer Stimmen, und das, was sie sprachen,
    alles dies veranlaßte ihn, seinen Entschluß zu ändern. Er schüttelte den Kopf und machte die Tür seufzend wieder
    zu. ›Ich will noch zehn Minuten warten‹, sagte er zu sich, räusperte sich und wischte sich die Tränen aus den
    Augen.
    Inzwischen war die Dienerschaft des Hauses in größter Aufregung. Alle hatten erfahren, daß die gnädige Frau
    gekommen sei und daß Kapitonütsch sie hereingelassen habe und daß sie jetzt im Kinderzimmer sei; und dabei ging
    doch der Herr immer zwischen acht und neun Uhr ins Kinderzimmer! Alle waren sich darüber klar, daß ein
    Zusammentreffen der beiden Gatten nicht stattfinden dürfe und verhindert werden müsse. Der Kammerdiener Kornei ging
    hinunter ins Pförtnerzimmer und erkundigte sich, wer sie hereingelassen habe und wie das zugegangen sei; und als er
    hörte, daß Kapitonütsch sie empfangen und heraufbegleitet habe, machte er dem Alten Vorwürfe. Der Pförtner beharrte
    in hartnäckigem Schweigen; aber als Kornei zu ihm sagte, er verdiene dafür weggejagt zu werden, da trat
    Kapitonütsch entschlossen auf ihn zu und sagte, indem er mit den Händen dicht vor Korneis Gesicht
    herumfuchtelte:
    »Ja, du, du hättest sie nicht hereingelassen! Zehn Jahre habe ich hier gedient und nichts als Gutes von ihr
    erfahren. Dann geh du doch jetzt hin und sage zu ihr: ›Bitte,

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