Anna Karenina
Vater denken solle.
»Sergei, mein lieber Junge«, sagte sie, »habe ihn lieb; er ist besser und braver als ich, und ich habe unrecht
gegen ihn gehandelt. Wenn du erst groß geworden sein wirst, dann wirst du das verstehen.«
»Besser als du ist niemand! ...« rief er in voller Verzweiflung und unter strömenden Tränen, faßte sie an den
Schultern und preßte sie mit seinen vor Anstrengung zitternden Armen aus Leibeskräften an sich.
»Mein Herzchen, mein lieber Kleiner!« murmelte Anna und begann ebenso hilflos und kindlich zu weinen wie er.
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Wasili Lukitsch trat ein. Auch bei der andern Tür wurden Schritte
hörbar, und die Kinderfrau flüsterte erschrocken: »Er kommt!« und reichte Anna ihren Hut.
Sergei ließ sich aufs Bett zurückfallen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte. Anna zog ihm die
Hände fort, küßte noch einmal sein tränenfeuchtes Gesicht und ging mit schnellen Schritten zur Tür. Dort traf sie
mit Alexei Alexandrowitsch zusammen. Als er sie erblickte, blieb er stehen und senkte den Kopf.
Sie hatte zwar eben erst gesagt, er sei besser und braver als sie; aber bei dem schnellen Blick, den sie auf ihn
richtete und mit dem sie seine ganze Gestalt mit allen Einzelheiten umfaßte, bemächtigte sich ihrer dennoch ein
Gefühl des Widerwillens und des Ingrimms gegen ihn und ein Gefühl des Neides wegen des ihm verbleibenden Sohnes.
Mit einer schnellen Bewegung zog sie den Schleier herunter, beschleunigte ihren Schritt und verließ fast laufend
das Zimmer.
Sie war nicht einmal dazu gekommen, die Spielsachen, die sie tags zuvor im Laden mit so viel Liebe und Leid
ausgesucht hatte, hervorzuholen, und brachte sie so, wie sie waren, wieder nach Hause zurück.
31
Wie lebhaft auch Anna das Wiedersehen mit ihrem Sohne gewünscht, wie lange sie auch daran gedacht und sich
darauf vorbereitet hatte, so hätte sie doch nicht erwartet, daß dieses Wiedersehen einen so heftigen Eindruck auf
sie machen werde. Als sie in ihr einsames Zimmer im Gasthofe zurückgekehrt war, konnte sie lange nicht begreifen,
warum sie eigentlich dort sei. ›Ja, nun ist alles aus, und ich bin wieder allein‹, sagte sie zu sich und setzte
sich, ohne den Hut abzunehmen, auf einen am Kamin stehenden Sessel. Regungslos nach der Bronze-Uhr hinstarrend, die
auf einem Tische zwischen den Fenstern stand, überließ sie sich ihren Gedanken.
Die französische Kammerjungfer, die sie aus dem Auslande mitgebracht hatte, kam herein und bot ihre Hilfe beim
Umkleiden an. Anna blickte sie erstaunt an und erwiderte: »Später.« Der Kellner fragte an, ob sie jetzt den Kaffee
befehle. »Später«, antwortete sie.
Die italienische Amme, die gerade die Kleine angekleidet hatte, kam mit ihr herein und brachte sie der Mutter.
Das dicke, wohlgenährte kleine Mädchen drehte, wie immer beim Anblick der Mutter, die nackten, in den Gelenken wie
von umgewickelten Fäden tief eingekerbten Ärmchen mit den Handflächen nach unten und begann, mit dem zahnlosen
Mündchen lächelnd, mit den Händen zu rudern wie ein Fisch mit den Flossen und mit ihnen auf den gestärkten Falten
seines gestickten Kleidchens herumzurascheln. Es war unmöglich, nicht zu lächeln, die Kleine nicht zu küssen; es
war unmöglich, ihr nicht einen Finger hinzuhalten, den sie dann, vor Freude aufkreischend und mit dem ganzen Körper
aufhüpfend, erfaßte; es war unmöglich, ihr nicht die Lippen hinzuhalten, die sie statt eines Kusses mit ihrem
Mündchen umfaßte. Und alles dies tat Anna auch: sie nahm sie auf den Arm und ließ sie springen und küßte sie auf
das frische Bäckchen und die nackten Ellbogen; aber beim Anblick dieses Kindes wurde es ihr noch klarer, daß das
Gefühl, das sie für die Kleine empfand, im Vergleich mit demjenigen, das sie für Sergei hegte, eigentlich gar nicht
Liebe zu nennen war. Alles an diesem kleinen Mädchen war entzückend; aber eigentümlicherweise wirkte alles dies
nicht auf ihr Herz. Auf das erste Kind, wenn es auch von einem ungeliebten Vater stammte, hatte sie alle Kraft
ihrer anderweitig unbefriedigt gebliebenen Liebe verwandt; das kleine Mädchen aber war unter den schrecklichsten
Umständen geboren, und es war ihm nicht der hundertste Teil der Sorgfalt zuteil geworden, die dem ersten Kinde
gewidmet worden war. Außerdem war bei dem kleinen Mädchen alles erst noch von der Zukunft zu er warten; Sergei
dagegen war schon beinahe ein richtiger Mensch,
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