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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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und ein geliebter Mensch; in ihm kämpften schon Gedanken und
    Empfindungen; er verstand seine Mutter, er liebte sie, er hatte ein Urteil über sie; davon war sie, wenn sie sich
    seine Worte und Blicke vergegenwärtigte, überzeugt. Und nun war sie von ihm für immer nicht nur körperlich, sondern
    auch geistig getrennt, und es gab kein Mittel, dies zu ändern.
    Sie gab das kleine Mädchen der Amme zurück, entließ sie und öffnete eine Bildkapsel, in dem sich ein Bild
    Sergeis aus der Zeit befand, wo er ungefähr ebenso alt gewesen war wie jetzt die Kleine. Sie stand auf, legte den
    Hut ab und nahm von einem Tischchen ein Album, das Aufnahmen ihres Sohnes aus verschiedenen Lebensaltern enthielt.
    Sie wollte die Bilder miteinander vergleichen und machte sich deshalb daran, sie aus dem Album herauszunehmen. Sie
    hatte schon fast alle herausgenommen, und nur eines, das letzte und beste Bild, steckte noch darin. Er saß darauf
    in einer weißen Hemdbluse rittlings auf einem Stuhle, kniff die Augen finster zusammen und lächelte mit dem Munde.
    Das war eine ihm ganz besonders eigene Miene, bei der er am allerbesten aussah. Mit ihren kleinen, geschickten
    Händen, deren weiße, schlanke Finger sich jetzt besonders eifrig bewegten, erfaßte sie mehrmals ein Eckchen des
    Bildes; aber das Bild entschlüpfte ihr immer wieder, und sie konnte es nicht herausbekommen. Ein Papiermesser lag
    nicht auf dem Tische, und so zog sie denn das danebensteckende Bild aus der Einfassung (es war ein in Rom
    aufgenommenes Bild von Wronski, mit rundem Hut und mit langem Haar) und stieß damit das Bild ihres Sohnes heraus.
    ›Das ist ja sein Bild!‹ dachte sie, indem sie einen Blick auf das Bild Wronskis warf, und auf einmal
    erinnerte sie sich, wer die eigentliche Ursache ihres jetzigen Kummers war. Sie hatte diesen ganzen Morgen über
    auch nicht ein einziges Mal an ihn gedacht. Aber jetzt, da sie sein männliches, edles, ihr so wohlvertrautes und
    liebes Gesicht betrachtete, fühlte sie ein unerwartetes Aufwallen der Liebe in ihrem Herzen.
    ›Aber wo ist er denn? Wie kann er mich nur in meinem Leide allein lassen?‹ dachte sie plötzlich mit einem Gefühl
    des Vorwurfs und vergaß dabei, daß sie selbst ihm alles, was ihren Sohn betraf, verheimlicht hatte. Sie schickte zu
    ihm hinunter und ließ ihn bitten, sogleich zu ihr zu kommen; mit heftig klopfendem Herzen wartete sie auf ihn und
    sann im voraus darüber nach, mit welchen Worten sie ihm alles erzählen und mit welchen Versicherungen seiner Liebe
    er sie dann trösten werde. Der Bote kehrte mit der Antwort zurück, er habe Besuch von einem Herrn, werde aber
    gleich heraufkommen und lasse fragen, ob sie ihn mit seinem Gaste, dem Fürsten Jaschwin, der soeben in Petersburg
    angekommen sei, empfangen könne. ›Er legt keinen Wert darauf, allein zu kommen, und hat mich doch seit gestern
    mittag nicht gesehen‹, dachte sie. ›Nun kommt er nicht so, daß ich ihm alles offen mitteilen könnte, sondern bringt
    diesen Jaschwin mit.‹ Und plötzlich fuhr ihr der seltsame Gedanke durch den Kopf: ›Wie, wenn er mich nicht mehr
    liebt?‹
    Und indem sie die Ereignisse der letzten Tage vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen ließ, glaubte sie in allem
    eine Bestätigung dieser schrecklichen Vermutung zu sehen: darin, daß er gestern auswärts zu Mittag gespeist hatte,
    und darin, daß er darauf bestanden hatte, daß sie in Petersburg getrennt wohnen sollten, und darin, daß er auch
    jetzt nicht allein zu ihr kam, gerade als wenn er ein Zusammentreffen unter vier Augen vermeiden wollte.
    ›Aber er muß mir darüber die Wahrheit sagen. Ich muß das wissen. Und wenn ich es wissen werde, dann werde ich
    auch wissen, was ich zu tun habe‹, sagte sie zu sich selbst, obgleich sie nicht imstande war, sich eine Vorstellung
    von der Lage zu machen, in die sie kommen würde, wenn sie die Überzeugung von seiner Gleichgültigkeit gegen sie
    würde erlangt haben. Sie glaubte, daß er sie nicht mehr liebe, und war im höchsten Grade erregt, ja sie fühlte sich
    der Verzweiflung nahe. Sie klingelte der Kammerjungfer und ging in ihr Ankleidezimmer. Sie widmete heute ihrem
    Äußeren mehr Sorgfalt als all diese Tage über, als könnte er, wenn er sie nicht mehr liebte, sie um deswillen
    wieder von neuem liebgewinnen, weil sie das Kleid und die Frisur trug, die ihr am besten standen.
    Noch ehe sie fertig war, hörte sie die Türklingel.
    Als sie in das Besuchszimmer trat, war nicht Wronski, sondern

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