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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Gefühl, nicht ein akuter Schmerz, sondern eine dumpfe, seine ganze Seele
    erfüllende Qual für einen Augenblick den Zahnschmerz vergessen. Beim Anblick des Tenders und der Schienen und unter
    der Einwirkung des Gesprächs mit einem Bekannten, mit dem er nach seinem Unglück noch nicht zusammengewesen war,
    erinnerte er sich plötzlich an sie, an Anna, das heißt an das, was von ihr noch übrig gewesen war, als er wie ein
    Rasender in den Dienstraum des Bahnhofs gestürzt war: auf einem Tisch in diesem Raum lag ausgestreckt, schmählich
    den Blicken fremder Leute preisgegeben, der blutige Leib, anscheinend noch erfüllt von dem Leben, das kurz vorher
    aus ihm entwichen war; der unversehrt gebliebene Kopf mit den schweren Flechten und dem krausen Haar an den
    Schläfen war nach hinten zurückgesunken, und auf dem reizenden Gesicht mit dem halb geöffneten Mund war ein
    seltsamer Ausdruck erstarrt, der um die Lippen etwas Mitleiderregendes, in den offen gebliebenen Augen etwas
    Furchtbares hatte und die entsetzlichen Worte: er werde es bereuen, zu wiederholen schien, die sie ihm bei dem
    Streit zugerufen hatte.
    Und er gab sich Mühe, sich ihr Bild in der Gestalt ins Gedächtnis zurückzurufen, wie er sie zum ersten Male,
    auch auf einem Bahnhof, gesehen hatte, geheimnisvoll, reizend, liebend, Glück suchend und Glück spendend, nicht
    grausam und rachsüchtig, wie sie ihm von dem letzten Augenblick her in der Erinnerung war. Er gab sich Mühe, an die
    schönsten mit ihr verlebten Augenblicke zu denken; aber die Erinnerung an diese Augenblicke war für immer
    vergiftet. Er erinnerte sich nur an ihre triumphierende Drohung, daß er es bereuen werde; und diese Drohung war in
    Erfüllung gegangen, und nun war sie da, diese Reue, die niemandem nützte und unauslöschbar in seiner Seele brannte.
    Er fühlte den Zahnschmerz nicht mehr, und ein unbezwingliches Schluchzen verzerrte sein Gesicht.
    Nachdem sie zweimal schweigend an den Säcken hin und her gegangen waren und Wronski seine Fassung wiedergewonnen
    hatte, wandte er sich in ruhigem Tone an Sergei Iwanowitsch.
    »Haben Sie neuere Telegramme nach dem gestrigen erhalten? Sie sind zum dritten Male geschlagen worden; aber für
    morgen wird die Entscheidungsschlacht erwartet.«
    Sie sprachen noch ein Weilchen über Milans Ausrufung zum Könige und über die gewaltigen Folgen, die dieser
    Schritt haben könne, und trennten sich dann beim zweiten Glockenzeichen, um jeder in seinen Wagen zu steigen.

6
    Da Sergei Iwanowitsch nicht gewußt hatte, wann es ihm möglich sein werde, von Moskau wegzureisen, so hatte er
    seinem Bruder nicht telegrafiert, daß er ihn von der Station abholen lassen möchte. Und so war denn Ljewin nicht zu
    Hause, als Katawasow und Sergei Iwanowitsch in einem Mietwagen, den sie sich auf der Station genommen hatten, von
    Staub schwarz wie die Mohren, um zwölf Uhr mittags vor der Tür des Gutshauses in Pokrowskoje vorfuhren. Kitty, die
    mit ihrem Vater und ihrer Schwester auf dem Balkon saß, erkannte ihren Schwager und lief hinunter, um ihn zu
    bewillkommnen.
    »Schämen Sie sich, daß Sie uns nicht vorher benachrichtigt haben«, sagte sie, gab Sergei Iwanowitsch die Hand
    und hielt ihm die Stirn zum Kusse hin.
    »Wir sind, auch ohne Ihnen Umstände zu machen, sehr gut hergelangt«, antwortete Sergei Iwanowitsch. »Ich bin
    dermaßen bestaubt, daß ich mich fürchte, Sie zu berühren. Ich hatte so viel zu tun, daß ich nicht wußte, wann ich
    mich würde losmachen können. Aber Sie und Konstantin«, sagte er lächelnd, »genießen hier in Ihrer stillen Bucht,
    fern von den unruhigen Strömungen, ganz wie immer ein stilles Glück. Und hier unser Freund Michail Semjonowitsch
    hat sich auch endlich einmal auf die Reise gemacht.«
    »Glauben Sie aber nicht, daß ich ein Neger bin; wenn ich mich gewaschen habe, werde ich wieder wie ein Mensch
    aussehen«, sagte Katawasow in seiner gewöhnlichen scherzhaften Art, indem er Kitty die Hand reichte und lächelte,
    wobei seine Zähne aus dem schmutzigen Gesicht besonders auffällig herausglänzten.
    »Konstantin wird sich sehr freuen. Er ist auf das Vorwerk gegangen, muß aber bald zurück sein.«
    »Immer ist er in seiner Wirtschaft tätig. Es ist wirklich hier wie in einer geschützten Bucht«, sagte Katawasow.
    »Wir in der Stadt bekommen jetzt nichts anderes zu hören als vom serbischen Kriege. Nun, wie stellt sich denn mein
    Freund dazu? Wahrscheinlich nicht so wie andere Leute?«
    »O doch, ziemlich ebenso

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