Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Mutter, selbst erst durch
    ihn kennengelernt habe und zu verstehen anfange. Für Agafja Michailowna, für die Kinderfrau, für den Großvater,
    sogar für den Vater war Dmitri ein lebendes Wesen, das nur körperliche Pflege verlangte; aber für die Mutter war er
    schon längst ein beseeltes Wesen, zu dem sie bereits eine ganze Menge geistiger Beziehungen hatte.
    »Wenn er aufwacht, werden Sie es, so Gott will, schon selbst sehen. Wenn ich nur so mache, dann strahlt er nur
    so, das süße Kerlchen. Er strahlt nur so, ordentlich wie der helle Tag«, sagte Agafja Michailowna.
    »Na, schön, schön, wir wollen nachher mal sehen«, flüsterte Kitty. »Jetzt gehen Sie nur; er schläft ein.«

7
    Agafja Michailowna ging auf den Fußspitzen hinaus; die Kinderfrau ließ die Vorhänge herunter, jagte die Fliegen
    aus den Musselinvorhängen des Bettchens hinaus und verscheuchte einen Brummer, der fortwährend gegen die
    Fensterscheiben stieß; dann setzte sie sich und wedelte mit einem verwelkten Birkenzweige über den Köpfen der
    Mutter und des Kindes.
    »Nein, diese Hitze, diese Hitze!« stöhnte sie. »Wenn Gott nur ein bißchen Regen schicken wollte!«
    »Ja, ja, sch-sch-scht ...«, antwortete Kitty nur. Sie wiegte sich leise hin und her und drückte zärtlich Dmitris
    dickes, an der Handwurzel wie von einem Faden umwickeltes Ärmchen, das der Kleine immer sachte bewegte, wobei er
    die Augen bald auf, bald zu machte. Über die Bewegungen dieses Ärmchens beunruhigte sich Kitty; sie wollte dieses
    Ärmchen küssen, fürchtete sich aber, es zu tun, um das Kind nicht aufzuwecken. Endlich hörte das Ärmchen auf, sich
    zu bewegen, und die Augen schlossen sich. Nur von Zeit zu Zeit setzte das Kind seine Saugtätigkeit noch einmal
    fort, hob die langen, gebogenen Wimpern in die Höhe und blickte die Mutter mit seinen feuchten, im Halbdunkel
    schwarz erscheinenden Augen an. Die Kinderfrau hörte auf zu fächeln und schlief ein. Von oben her hörte man die
    kräftige Stimme des alten Fürsten und Katawasows Lachen.
    ›Die Unterhaltung ist offenbar auch ohne mich in Gang gekommen‹, dachte Kitty, ›aber es ist doch schade, daß
    Konstantin nicht da ist. Er ist gewiß wieder nach dem Bienenstand gegangen. Obgleich es mir leid tut, daß ihn dies
    sooft von Hause fern hält, so freue ich mich doch auch darüber. Das zerstreut ihn. Er ist jetzt viel heiterer
    geworden und fühlt sich viel wohler als im Frühjahr. Sonst war er so düster und quälte sich so mit seinen Gedanken,
    daß mir ordentlich bange um ihn wurde. Aber was ist er doch für ein seltsamer Mensch!‹ dachte sie lächelnd.
    Sie wußte, was ihren Mann quälte. Es war sein Unglaube. Zwar, wenn man sie gefragt hätte, ob sie meine, daß er
    im zukünftigen Leben wegen seines Unglaubens der Verdammnis anheimfallen werde, so hätte sie einräumen müssen, daß
    er allerdings werde verdammt werden; aber trotzdem machte sein Unglaube sie nicht unglücklich. Und obgleich sie
    sich zu der Lehre bekannte, wonach für einen Ungläubigen keine Rettung möglich sei, und die Seele ihres Mannes mehr
    als alles in der Welt liebte, so dachte sie doch an seinen Unglauben mit einem Lächeln und sagte zu sich selbst,
    daß er ein eigenartiger Mensch sei.
    ›Wozu liest er das ganze Jahr hindurch allerlei philosophische Bücher?‹ dachte sie. ›Wenn in diesen Büchern die
    Wahrheit geschrieben stände, so würde er es doch verstehen können und zur Ruhe kommen; wenn aber Unwahrheit darin
    steht, was hat es dann für Zweck, diese Bücher zu lesen? Er sagt selbst, es sei sein Wunsch zu glauben. Warum
    glaubt er dann also nicht? Doch wohl, weil er zuviel denkt? Und daß er soviel denkt, das kommt von seinem einsamen
    Leben her. Immer ist er allein, immer allein. Mit uns kann er nicht über alles sprechen. Ich glaube, diese Gäste
    werden ihm angenehm sein, besonders Katawasow. Er unterhält sich gern mit ihm‹, dachte sie, überlegte sich aber im
    nächsten Augenblick, wie sie wohl Katawasow am besten unterbringen könne, ob er allein schlafen solle oder mit
    Sergei Iwanowitsch zusammen. Und da schoß ihr auf einmal ein Gedanke durch den Kopf, der sie vor Aufregung
    zusammenfahren ließ; dadurch wurde sogar Dmitri beunruhigt, so daß er sie dafür mit einem strengen Blick ansah.
    ›Die Waschfrau hat ja wohl noch nicht die Wäsche gebracht, und was an Bettwäsche vorhanden war, ist schon für die
    bisherigen Gäste herausgegeben. Wenn ich nicht das Nötige anordne, wird Agafja

Weitere Kostenlose Bücher