Anna Karenina
wie alle«, antwortete Kitty etwas verlegen und blickte sich dabei nach Sergei
Iwanowitsch um. »Ich will hinschicken und ihn rufen lassen. Bei uns ist auch Papa zu Besuch. Er ist erst vor kurzem
aus dem Ausland zurückgekommen.«
Sie sorgte durch die nötigen Anordnungen dafür, daß Ljewin geholt wurde und daß die bestaubten Gäste zu
Waschgelegenheiten geführt wurden, der eine in Ljewins Arbeitszimmer, der andere in Dollys bisheriges Zimmer, und
daß für die Gäste ein Frühstück angerichtet wurde; dann lief sie, sich des wiedergewonnenen Rechtes auf schnelle
Bewegungen bedienend, auf die sie während ihrer Schwangerschaft hatte verzichten müssen, auf den Balkon.
»Sergei Iwanowitsch und der Professor Katawasow sind angekommen«, sagte sie.
»Na, das wird bei der Hitze eine schwere Aufgabe!« meinte der Fürst.
»Nein, Papa, auch der Professor ist ein sehr netter Mensch, und Konstantin hat ihn sehr gern«, erwiderte Kitty
lächelnd, als sie einen spöttischen Ausdruck im Gesicht ihres Vaters bemerkte; es klang, als ob sie ihn um etwas
bitten wolle.
»Aber ich habe ja gar nichts gesagt.«
»Geh du zu ihnen, liebe Dolly«, wandte sich Kitty an ihre Schwester, »und unterhalte sie. Sie haben Stiwa in
Moskau auf dem Bahnhof getroffen; er ist gesund und munter. Ich muß schnell zu meinem kleinen Dmitri.
Unglücklicherweise hat er, seit wir Tee getrunken haben, nicht mehr die Brust bekommen. Er wird jetzt aufgewacht
sein und sicherlich schreien.« Sie fühlte einen Andrang der Milch und ging schnellen Schrittes nach dem
Kinderzimmer.
Und wirklich, sie erriet nicht nur (ihre Verbindung mit dem Kinde war noch nicht unterbrochen), sondern erkannte
zuverlässig aus dem Andrang der Milch bei ihr das Bedürfnis nach Nahrung bei ihm.
Sie wußte, daß der Kleine schrie, noch ehe sie sich dem Kinderzimmer näherte. Und er schrie wirklich; jetzt
hörte sie schon seine Stimme und beschleunigte ihren Schritt. Aber je schneller sie ging, um so lauter schrie er.
Es war eine gute, gesunde Stimme, nur hungrig und ungeduldig.
»Schreit er schon lange?« fragte Kitty eilig die Kinderfrau, setzte sich auf einen Stuhl und traf die nötigen
Anstalten, um dem Kinde die Brust zu geben. »So geben Sie ihn mir doch schnell her! Ach, was sind Sie langweilig;
das Häubchen können Sie ihm doch auch nachher noch zubinden!«
Der Kleine schrie in seiner Gier, als ob er bersten wollte.
»Aber das muß doch sein, Mütterchen«, sagte Agafja Michailowna, die fast stets auch im Kinderzimmer anwesend
war. »Er muß doch ordentlich angezogen werden. Eiapopeia!« sang sie, sich über ihn beugend, ohne sich um die
Wünsche der Mutter zu kümmern.
Die Kinderfrau trug das Kind zur Mutter hin. Agafja Michailowna ging hinterher; ihr Gesicht zerging fast vor
Zärtlichkeit.
»Er kennt mich, er kennt mich! Glauben Sie mir, bei Gott, Mütterchen Katerina Alexandrowna, er hat mich
erkannt!« rief Agafja Michailowna sehr laut, um sich trotz des Geschreies des Kindes verständlich zu machen.
Aber Kitty hörte nicht darauf, was sie sagte. Ihre Ungeduld stieg ebenso wie die des Kindes.
Vor beiderseitiger Ungeduld konnte die Sache längere Zeit nicht in Ordnung kommen. Das Kind erfaßte nicht das,
was es erfassen sollte, und wurde ärgerlich.
Endlich, nach verzweifeltem Schreien, wobei das Kind zu ersticken drohte, und nach leeren Schluckbewegungen
ordnete sich alles nach Wunsch, und Mutter und Kind fühlten sich gleichzeitig beruhigt und wurden beide still.
»Aber der arme kleine Bursche ist ja wie in Schweiß gebadet«, sagte Kitty flüsternd, indem sie das Kind
befühlte. »Woher meinen Sie, daß er Sie erkennt?« fügte sie hinzu und schielte nach den Augen des Kindes, die unter
dem ins Gesicht gerutschten Häubchen schelmisch, wie es ihr vorkam, hervorschauten, nach den taktmäßig sich
aufblähenden Bäckchen und nach dem auf der Innenseite roten Händchen, mit dem das Kind kreisförmige Bewegungen
ausführte.
»Das ist nicht möglich! Wenn er überhaupt schon jemanden erkennen könnte, so würde er doch zunächst mich
erkennen«, erwiderte Kitty auf Agafja Michailownas Beteuerungen und lächelte dabei.
Der Grund ihres Lächelns war dieser: obgleich sie gesagt hatte, er könne niemand erkennen, so war sie doch in
tiefster Seele überzeugt, daß er nicht nur Agafja Michailowna erkenne, sondern schon alles mögliche wisse und
verstehe und sogar vieles wisse und verstehe, was sonst niemand wisse und was sie, die
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