Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
Vom Netzwerk:
Ausschweifung
    ergeben hatte. Er entsann sich ferner einer Geschichte mit einem Knaben, den der Bruder vom Lande zur Erziehung zu
    sich genommen hatte und den er in einem Wutanfalle dermaßen prügelte, daß er sich eine Klage wegen schwerer
    Körperverletzung zuzog. Dann gedachte er einer Geschichte mit einem Falschspieler, an den der Bruder Geld verloren
    hatte und dem er einen Wechsel gab und gegen den er darauf selbst eine Klage einreichte, mit der Begründung, daß
    jener ihn betrogen habe. (Das war die Geldsumme, die Sergei Iwanowitsch bezahlt hatte.) Weiter erinnerte er sich,
    wie Nikolai wegen einer Ausschweifung eine Nacht auf der Polizeiwache zugebracht hatte. Er erinnerte sich, wie er
    einen schmählichen Prozeß gegen seinen Bruder Sergei Iwanowitsch angestrengt hatte, weil dieser ihm nicht den ihm
    zukommenden Anteil des mütterlichen Vermögens ausgezahlt hatte. Und dann der letzte Skandal, wie er irgendwo im
    Westen des Reiches eine Anstellung gefunden hatte, aber dort gerichtlich belangt worden war wegen einer Tracht
    Prügel, die er dem Gemeindevorsteher verabfolgt hatte. – Das waren ja alles überaus garstige Dinge; aber Ljewin
    beurteilte es doch nicht so schlimm, wie es notwendigerweise die taten, die Nikolai und seine ganze Entwicklung und
    sein Herz nicht kannten.
    Ljewin dachte auch daran, wie damals, als Nikolai sich in der Periode der Frömmigkeit, der Fasten, der
    Möncherei, des Kirchenbesuches befunden und in der Religion eine Hilfe, einen Zügel für seine leidenschaftliche
    Natur gesucht hatte, wie ihm damals niemand eine Stütze gewesen war, ja im Gegenteil alle, und auch er selbst, sich
    über ihn lustig gemacht hatten. Sie hatten ihn gehänselt, ihn den Vater Noah und den Mönch genannt, aber als es ihn
    später gepackt hatte, da hatte ihm niemand geholfen, sondern alle hatten sich voll Entsetzen und Abscheu von ihm
    abgewandt.
    Ljewin sagte sich, daß sein Bruder Nikolai, trotz aller Schlechtigkeit seines Lebenswandels, im tiefsten Grunde
    seiner Seele nicht schuldiger war als die Leute, die ihn verachteten. Es war nicht seine Schuld, daß er mit einem
    unbändigen Charakter und einem etwas beschränkten Verstande geboren war. Aber er war immer bestrebt gewesen, ein
    guter Mensch zu sein. ›Ich will ganz offen mit ihm reden; ich will ihn dazu bringen, mir alles frei heraus zu
    sagen, und will ihm zeigen, daß ich ihn liebe und ihn darum auch verstehe‹, das nahm sich Ljewin vor, als er nach
    zehn Uhr in seiner Droschke bei dem Gasthause ankam, in dem der Anschrift zufolge Nikolai wohnen sollte.
    »Oben, in Nummer zwölf und dreizehn«, antwortete der Pförtner auf Ljewins Frage.
    »Ist er zu Hause?«
    »Doch wohl.«
    Die Tür von Nummer zwölf war halb geöffnet; von innen drang mit einem Lichtstreifen zugleich ein dichter Qualm
    von schlechtem, schwachem Tabak heraus, und Ljewin vernahm eine ihm unbekannte Stimme. Aber er merkte sofort, daß
    auch sein Bruder anwesend war, denn er hörte dessen Hüsteln.
    Als er durch die Außentür in einen kleinen Vorraum trat, der vom Zimmer durch eine spanische Wand getrennt war,
    sagte die unbekannte Stimme gerade:
    »Es wird alles davon abhängen, ob die Sache mit Vernunft und Verständnis betrieben wird.«
    Konstantin Ljewin blickte durch die in der Zwischenwand befindliche Tür, die gleichfalls offenstand, ins Zimmer
    und sah, daß der Redende ein junger Mann mit gewaltigem Haarschopfe, in einer Jacke ohne Ärmel war. Ein junges,
    pockennarbiges Frauenzimmer in einem wollenen Kleide ohne Manschetten und Kragen saß auf dem Sofa. Der Bruder war
    nicht zu erblicken. Konstantins Herz zog sich schmerzlich zusammen bei dem Gedanken, unter was für fremden Leuten
    sein Bruder da lebte. Niemand hatte ihn kommen hören, und Konstantin zog sich die Gummischuhe aus und hörte dabei
    zu, was der Herr in der ärmellosen Jacke sagte. Er redete von irgendeinem Unternehmen.
    »Hol sie der Teufel, diese bevorrechtigten Klassen!« ließ sich nun auch, unter stetem Husten, die Stimme des
    Bruders vernehmen. »Marja, besorge uns etwas zum Abendessen und gib uns Wein, wenn noch welcher da ist; sonst laß
    holen!«
    Die Frau stand auf, ging durch die Zwischentür und erblickte Konstantin.
    »Ein Herr ist hier, Nikolai Dmitrijewitsch«, sagte sie.
    »Zu wem wollen Sie?« fragte Nikolais Stimme in ärgerlichem Tone.
    »Ich bin es«, antwortete Konstantin und trat ins Helle.
    »Was für ein Ich?« fragte wieder Nikolais Stimme noch ärgerlicher. Es war zu

Weitere Kostenlose Bücher