0408 - Der Drachenblut-Vampir
Es war ein schriller, manchmal klagender Gesang, der durch die dünnen Nebelschleier und die hereinbrechende Dunkelheit an unsere Ohren drang. Er steigerte sich zu einer alles beherrschenden Lärmkulisse, die jedem Zuhörer wahre Gänsehautschauer über den Rücken trieb.
Der Ruf sprach von einer ungeheuren Qual, von schwerem Leid und von einer absoluten Hoffnungslosigkeit. Er zitterte förmlich in der Luft.
Die Iren glaubten fest daran, dass jemand aus der Familie starb, wenn man den Schrei vernahm.
Deshalb hatte Ria so eine große Angst.
Sie hielt mich noch immer umklammert. Es schien so, als wollte der Schrei überhaupt nicht abreißen. Die Banshee entlockte ihrer Kehle stets neue Töne und Klänge, die erst nach einer Minute leiser wurden, bevor der Schrei, jetzt zu einem Wimmern verkümmert, endgültig verstummte.
Ria Rush und ich standen stumm auf dem Fleck und schauten in die weiche, wandernde Nebelwatte hinein, die über das grüne Spätherbstland strich.
Ria lehnte ihren Kopf gegen meine Schulter und schaute mich an.
Ich ahnte, dass sie etwas sagen wollte.
Sie war eine typische Irin. Das rotblonde Haar hielt sie unter einem schlichten Kopftuch verborgen, die Haut war ein wenig blass, aber voller Sommersprossen. Ich kannte Frauen, die hatten ebenfalls grüne Augen, aber nicht so wie Ria. Das Grün ihrer Augen war weich und Vertrauen erweckend.
Und Vertrauen hatte sie zu mir, sonst hätte sie mich nicht auf die grüne Insel geholt. Mich und Suko, der sich momentan woanders befand.
»Jetzt hast du den Schrei gehört, John, und kannst nichts mehr abstreiten.«
»Das stimmt.«
»Nun wird jemand sterben.«
»Das ist nicht sicher.«
»Doch, John«, sagte sie mit ernster Stimme. »Es ist sicher. So sicher wie der Schrei der Banshee. Immer wieder haben wir gedacht, dass es sie nicht mehr gibt, aber sie sind noch da, vielleicht zurückgekehrt aus ihrer Welt.«
»Was ist ihre Welt?«, fragte ich zwischen.
»Aibon.«
Ich presste die Lippen hart zusammen, denn genau das war der springende Punkt.
Aibon! Allein wegen dieses Namens hatte ich die weite Fahrt nach Irland unternommen. Aibon – das geheimnisvolle Land der Druiden, das Reich zwischen den Welten, das entstanden war, als die Zeiten begannen und der große Kampf des Guten gegen das Böse stattfand.
Als die Heerscharen des Lichts, an der Spitze der Erzengel Michael, die Abtrünnigen, mit Luzifer als Anführer, in die ewige Verdammnis stießen, war auch Aibon entstanden. Als eines der ältesten Reiche überhaupt. Wenn man versuchte, seine Lage zu lokalisieren, gelangte man zu dem Ergebnis, dass es zwischen Himmel und Erde liegen musste, vielleicht auch zwischen Gut und Böse, getrieben von dem Drang, sich den Menschen des Öfteren zu offenbaren. Aibon war allgegenwärtig, auch unter der Menschheit. In Sagen, in Legenden, in vielen Geschichten, die von Elfen, Gnomen, Zwergen, aber auch von Drachen und Riesenschlangen erzählten, die allesamt von der Kraft und der Macht der Eichenkundigen, den Druiden, geleitet wurden.
Das war Aibon, das grüne Land.
Aber es gab auch das andere Gesicht des Landes. Nicht die netten Legenden und Geschichten, sondern das Grauen, die brodelnde Unterwelt, denn auch in diesem Land gab es Gut und Böse.
Und die Banshees?
Sie waren etwas Besonders. Manche sagten Hexen zu ihnen. Früher jedenfalls waren sie als Hexen gejagt worden, doch ich wollte das nicht glauben. Für mich zählten die Banshees mehr zu den feenartigen Geschöpfen oder Elfen, die einen tiefen Einblick in die Dinge hatten, die uns Menschen verborgen blieben und die deshalb die Menschen warnten und ihnen Unheil ankündigten.
Aibon hatte mich also alarmiert – und auch Ria Rush, die von Aibon träumte und von einer jungen Frau, die sich ihr in den Wahrträumen als Miriam di Carlo vorstellte.
Sie war ihr immer öfter erschienen, hatte meinen Namen genannt und mit ernster Stimme gesprochen.
Von einer schrecklichen Gefahr hatte sie geredet, von Tod, Leid und Grauen.
Und von den Banshees, die als Todesboten die Grenzen zwischen den Reichen und Dimensionen überschritten hatten, um ihre warnenden Rufe erklingen zu lassen.
Ich hatte in London Bescheid bekommen und zum Glück auch Zeit gehabt. Den letzten Fall, in dem ein Henker späte Rache übte, hatte ich abgeschlossen.
Aibon hatte nicht nur mich aus meiner Lethargie gerissen, sondern auch meinen Chef, Sir James. Und der hatte beschlossen, dass ich nicht allein fuhr, sondern Suko mitnahm. Zu viele
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