Anna Karenina
einmal da!« Er zeigte in die Ecke der Stube auf ein paar Eisenstangen, die mit Stricken zusammengebunden
waren. »Siehst du das da? Das ist der Anfang eines neuen Unternehmens, an das wir uns jetzt heranmachen. Es ist
eine Produktivgenossenschaft.«
Konstantin hörte ihm kaum zu. Er betrachtete das kranke, schwindsüchtige Gesicht seines Bruders, und das Mitleid
mit diesem wurde in seinem Herzen immer größer; er konnte sich nicht dazu zwingen, mit Aufmerksamkeit anzuhören,
was der Bruder ihm über die Genossenschaft erzählte. Er durchschaute es, daß diese Genossenschaft für Nikolai nur
ein Rettungsanker war, um sich nicht selbst verachten zu müssen. Nikolai redete weiter:
»Du weißt, daß das Kapital den Arbeiter erdrückt. Die Arbeiter und Bauern tragen bei uns die ganze Last der
Arbeit und sind doch dabei so gestellt, daß sie aus ihrer jämmerlichen Lage nie herauskommen können, und wenn sie
sich noch so sehr abquälen. Aller über den notwendigsten Lebensunterhalt hinausgehende Arbeitsverdienst, durch den
sie ihre Lage verbessern, sich einige Mußestunden verschaffen und infolgedessen sich eine gewisse Bildung aneignen
können, dieser ganze Überschuß wird ihnen von den Kapitalisten weggenommen. Und die sozialen Zustände haben sich so
gestaltet, daß, je mehr sie arbeiten, um so mehr die Kaufleute und Gutsbesitzer sich bereichern, sie selbst aber
immer nur Arbeitsvieh bleiben. Diese Einrichtung muß geändert werden«, schloß er und blickte seinen Bruder fragend
an.
»Ja, selbstverständlich«, antwortete Konstantin und betrachtete die roten Flecke, die sich unterhalb der
hervorstehenden Backenknochen seines Bruders abzeichneten.
»Und da wollen wir denn eine Schlossergenossenschaft gründen, wo alles, der gesamte Betrieb und der Gewinn und
die wichtigsten zum Betriebe erforderlichen Werkzeuge, gemeinsam sein soll.«
»Wo soll denn diese Genossenschaft ihren Sitz haben?« fragte Konstantin Ljewin.
»Im Dorf Wosdrema, Gouvernement Kasan.«
»Aber warum denn auf dem Lande? Auf dem Lande, sollte ich meinen, ist sowieso schon viel Arbeit. Was soll auf
dem Lande eine Schlossergenossenschaft?«
»Der Grund ist der, daß die Bauern jetzt noch ebensolche Sklaven sind, wie sie es früher waren; und darum ist es
dir und Sergei Iwanowitsch auch so unangenehm, daß sie aus dieser Sklaverei befreit werden sollen«, versetzte
Nikolai, durch die Erwiderung gereizt.
Konstantin, der unterdes in dem unfreundlichen, schmutzigen Zimmer umherblickte, konnte einen Seufzer nicht
zurückhalten. Dieser Seufzer schien Nikolai noch mehr zu reizen.
»Ich kenne deine und Sergei Iwanowitschs aristokratischen Ansichten. Ich weiß, daß er seine ganze Geisteskraft
dazu verwendet, die jetzt bestehende Mißwirtschaft zu verteidigen.«
»Nicht doch! Aber warum sprichst du denn immer von Sergei Iwanowitsch?« sagte Konstantin lächelnd.
»Warum ich von Sergei Iwanowitsch rede? Das will ich dir sagen!« schrie Nikolai plötzlich auf, als Konstantin
diesen Namen nannte. »Das will ich dir sagen. – Aber was für einen Zweck hat es, davon zu reden? Nur eines möchte
ich wissen: Warum bist du überhaupt zu mir gekommen? Du verachtest ja mich und meine Bestrebungen. Nun schön, also
geh in Gottes Namen! Geh!« schrie er und stand von seinem Stuhle auf. »Geh hinaus, geh hinaus!«
»Von Verachtung ist bei mir nicht die Rede«, antwortete Konstantin schüchtern. »Ich will auch gar nicht mit dir
streiten.«
In diesem Augenblick kam Marja Nikolajewna zurück. Nikolai sah sich zornig nach ihr um. Sie trat schnell zu ihm
heran und flüsterte ihm etwas zu.
»Ich bin nicht wohl; ich bin reizbar geworden«, sagte nun Nikolai, sich allmählich beruhigend und schwer atmend,
»und dazu redest du mir noch von Sergei Iwanowitsch und seiner Abhandlung. Das ist der reine Unsinn, albernes
Geschwätz, Selbstbetrug. Wie kann ein Mensch über Gerechtigkeit schreiben, der gar keine Gerechtigkeit kennt? Haben
Sie seine Abhandlung gelesen?« wandte er sich an Krizki, während er sich wieder an den Tisch setzte und die
Zigaretten, die über den halben Tisch verstreut lagen, beiseite schob, um Platz zu machen.
»Nein, ich habe sie nicht gelesen«, antwortete Krizki mürrisch, der augenscheinlich keine Lust hatte, sich an
dem Gespräche zu beteiligen.
»Warum nicht?« fuhr Nikolai jetzt erregt gegen Krizki los.
»Weil ich es für zwecklos halte, damit meine Zeit zu verlieren.«
»Aber erlauben Sie, woher wissen Sie
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