Anna Karenina
Quadrille hatte Kitty auch nicht mehr erwartet; sie
wartete mit Herzklopfen auf die Masurka. Bei der Masurka, meinte sie, müsse alles zur Entscheidung kommen. Daß er
sie während der Quadrille nicht zur Masurka aufforderte, beunruhigte sie nicht weiter. Sie hielt es für
selbstverständlich, daß sie wie auf den früheren Bällen auch diesmal die Masurka mit ihm tanzen werde, und wies
fünf Herren ab, von denen sie aufgefordert wurde, da sie bereits vergeben sei. Der ganze Ball bis zur letzten
Quadrille war für Kitty ein märchenhafter Traum voll heiterer Farben, Klänge und Bewegungen. Sie tanzte fast
ununterbrochen; nur wenn sie sich zu müde fühlte und der Erholung bedurfte, ließ sie eine Pause eintreten. Die
letzte Quadrille tanzte sie mit einem langweiligen jungen Manne, dem sie nicht gut hatte einen Korb geben können,
und es traf sich, daß sie dabei Wronski und Anna zum Gegenüber hatte. Sie war mit Anna seit der Begegnung gleich zu
Beginn des Balles nicht wieder in Berührung gekommen und sah sie nun auf einmal in einem ganz neuen, überraschenden
Zustande wieder. Sie nahm an ihr die ihr selbst so wohlbekannten Merkmale jener Erregung wahr, die durch einen
persönlichen Erfolg hervorgerufen wird. Sie sah, daß Anna wie berauscht war von dem Gefühle des Triumphes darüber,
daß sie Entzücken erregt habe. Sie kannte dieses Gefühl und kannte seine Anzeichen und sah sie jetzt bei Anna – sie
sah den zitternden, aufleuchtenden Glanz in ihren Augen und das Lächeln des Glücks und der Aufregung, das
unwillkürlich ihren Mund umspielte, und die vollendete Anmut, Sicherheit und Leichtigkeit aller Bewegungen.
›Wer ist es?‹ fragte sie sich selbst. ›Alle oder ein einzelner?‹ Während der junge Mann, mit dem sie tanzte,
sich abquälte, sie zu unterhalten, aber den Faden verlor, ohne daß er ihn hätte wiederfinden können oder sie ihm zu
Hilfe gekommen wäre, und während sie äußerlich heiter den lauten Kommandos des Herrn Korsunski Folge leistete, der
alle Tanzenden bald zur grande ronde, bald zur chaîne 1 formierte, beobachtete sie unterdessen, und ihr Herz krampfte sich immer
schmerzlicher zusammen. ›Nein, nicht daß sie das Wohlgefallen vieler gefunden, sondern daß sie das Entzücken eines
einzelnen erregt hat, das hat sie so berauscht. Und wer ist dieser eine? Sollte er es sein, er?‹ Jedesmal, wenn er
zu Anna sprach, leuchtete in ihren Augen ein freudiger Glanz auf, und ein glückliches Lächeln trat auf ihre roten
Lippen. Es schien, als gäbe sie sich Mühe, diese Zeichen ihrer Freude zu unterdrücken; aber sie drangen auf ihrem
Gesichte aus eigener Kraft hervor. ›Und wie ist es mit ihm?‹ fragte sich Kitty, blickte ihn an und erschrak heftig.
Das, was ihr in Annas Gesicht klar wie in einem Spiegel entgegengetreten war, ebendasselbe erblickte sie auch bei
ihm. Wo war seine sonst immer so ruhige, sichere Haltung geblieben, wo der sorglose, unbekümmerte Ausdruck seines
Gesichtes? Jetzt war das alles verändert: jedesmal, wenn er sich ihr zuwandte, neigte er ein wenig den Kopf, als
wolle er vor ihr niederfallen, und in seinem Blicke lag unausgesetzt der Ausdruck völliger Ergebenheit und einer
gewissen Bangigkeit. ›Ich möchte dich nicht durch meine Leidenschaft beleidigen‹, schien jedesmal sein Blick zu
sagen. ›Ich möchte mich retten und weiß nicht, wie.‹ Auf seinem Gesichte lag ein Ausdruck, wie ihn Kitty noch nie
an ihm kennengelernt hatte.
Sie unterhielten sich über gemeinsame Bekannte und führten ein ganz gleichgültiges Gespräch, aber Kitty hatte
die Empfindung, daß jedes von ihnen gesprochene Wort das Schicksal der beiden sowie auch ihr eigenes entscheide.
Und seltsam: obgleich sie in Wirklichkeit nur davon redeten, wie lächerlich sich Iwan Iwanowitsch mit seinem
Französischsprechen mache, und daß Fräulein Jelezkaja doch wohl eine bessere Partie hätte finden können, so hatten
dabei doch diese Worte für sie eine besondere Bedeutung, und sie fühlten das nicht minder als Kitty. Der ganze
Ball, die ganze Welt, alles umzog sich in Kittys Seele wie mit einem dichten Nebel. Nur die strenge Schule der
Erziehung, durch die sie hindurchgegangen war, hielt sie aufrecht und zwang sie, das zu tun, was von ihr verlangt
wurde, das heißt zu tanzen, auf Fragen zu antworten, die Unterhaltung weiterzuspinnen, ja sogar zu lächeln. Aber
vor dem Beginne der Masurka, als schon die Stühle dazu in Ordnung gestellt wurden und bereits einige
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