Anna Karenina
hören, daß er schnell aufstand und
dabei an irgend etwas anstieß, und dann erblickte Konstantin vor sich in der Zwischentür die ihm so wohlbekannte
und ihn doch durch ihr verwildertes und kränkliches Aussehen überraschende Gestalt seines Bruders: von gewaltiger
Größe, hager, gebückt, mit großen, verstörten Augen.
Er war noch magerer als vor drei Jahren, da ihn Konstantin Ljewin zum letzten Male gesehen hatte. Er trug einen
kurzen Rock, wodurch seine Hände und der breite Knochenbau des Oberkörpers noch riesiger erschienen. Das Haar war
dünner geworden, derselbe gerade Schnurrbart wie früher verdeckte die Lippen, dieselben Augen blickten sonderbar
kindlich den Eintretenden an.
»Ah, Konstantin!« sagte er auf einmal, als er seinen Bruder erkannte, und seine Augen leuchteten freudig auf.
Aber im gleichen Augenblick wandte er sich nach dem jungen Manne um und machte mit dem Kopfe und dem Halse eine
seinem Bruder wohlbekannte Bewegung, als ob ihn die Halsbinde belästige, und nun erschien auf seinem abgemagerten
Gesichte ein ganz anderer, scheuer, leidender, trotziger Ausdruck.
»Ich habe sowohl Ihnen wie Sergei Iwanowitsch geschrieben, daß ich Sie beide nicht kenne und nicht kennen will.
Was willst du ... was wollen Sie von mir?«
Sein Wesen war doch ganz anders, als es sich Konstantin vorher vorgestellt hatte. Die unangenehmste und
schlimmste Eigenheit seines Charakters, die jeden Umgang mit ihm so sehr erschwerte, hatte Konstantin, als er sich
seinen Bruder vergegenwärtigte, vergessen gehabt, und erst jetzt, als er sein Gesicht und namentlich diese
krampfhafte Kopfdrehung sah, kam ihm das alles wieder ins Gedächtnis.
»Ich will eigentlich nichts von dir«, antwortete er schüchtern. »Ich bin nur gekommen, um dich einmal
wiederzusehen.«
Durch die Schüchternheit seines Bruders ließ sich Nikolai offenbar milder stimmen. Er zuckte mit den Lippen.
»Soso; nun, wie geht es dir?« sagte er. »Na, dann komm herein und setz dich! Willst du mit uns Abendbrot essen?
Marja, bring drei Portionen. Nein, warte noch! Weißt du, wer das ist?« fragte er seinen Bruder, indem er auf den
Herrn in der Jacke zeigte. »Das ist Herr Krizki, ein Freund von mir, noch aus der Kiewer Zeit, ein sehr bedeutender
Mann. Selbstverständlich verfolgt ihn die Polizei, weil er kein Schuft ist.«
Und wie das von jeher seine Gewohnheit gewesen war, blickte er alle im Zimmer Anwesenden der Reihe nach an. Als
er sah, daß die Frau, die in der Tür stand, nun eine Bewegung machte, um hinauszugehen, schrie er ihr zu: »Du
sollst warten, habe ich gesagt!« Und in jener ungeschickten, verworrenen Redeweise, die Konstantin so gut an ihm
kannte, begann er, indem er seine Blicke wieder bei allen umherwandern ließ, seinem Bruder Krizkis Lebensschicksale
zu erzählen: wie er von der Universität verwiesen sei, weil er Sonntagsschulen und einen Verein zur Unterstützung
armer Studenten gegründet habe, und wie er dann eine Stelle als Volksschullehrer angenommen habe, und wie er auch
von da weggejagt und endlich noch aus irgendwelchem Grunde vor Gericht gekommen sei.
»Sie haben in Kiew studiert?« fragte Konstantin Herrn Krizki, um das unbehagliche Schweigen, das eingetreten
war, zu unterbrechen.
»Jawohl, in Kiew«, erwiderte Krizki, ärgerlich die Stirn runzelnd.
»Und dieses Weib hier«, unterbrach ihn Nikolai und wies auf die Frauensperson, »ist meine Lebensgefährtin, Marja
Nikolajewna. Ich habe sie aus so einem gewissen Hause weggeholt«, er machte wieder einen Ruck mit dem Halse,
während er das sagte. »Aber ich liebe und achte sie, und ich ersuche alle, die mich kennen wollen«, fügte er mit
erhobener Stimme und finsterem Gesichte hinzu, »sie ebenfalls zu lieben und zu achten. Sie ist ganz dasselbe, wie
wenn sie meine Frau wäre. So, nun weißt du, wen du vor dir hast. Und wenn du meinst, daß du dich durch den Verkehr
mit einem von uns erniedrigst, dann Gott befohlen, dort ist die Tür.«
Wieder gingen seine Augen fragend von einem zum anderen.
»Warum ich meinen sollte, mich dadurch zu erniedrigen, das verstehe ich nicht.«
»Dann laß also das Abendessen bringen, Marja: drei Portionen und Schnaps und Wein ... Nein, warte ... Nein, es
ist schon gut ... Geh nur!«
25
»Nun, siehst du wohl«, fuhr Nikolai Ljewin fort; er zog die Stirn in tiefe Falten und zuckte ab und zu
zusammen.
Es wurde ihm offenbar schwer, mit sich darüber ins klare zu kommen, was er sagen und tun solle.
»Sieh
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