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Anna Karenina

Anna Karenina

Titel: Anna Karenina Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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mußt doch zwischen mir und ihm wählen«, erwiderte er und blickte dem
    Bruder schüchtern in die Augen. Diese Schüchternheit rührte Konstantin.
    »Wenn du in dieser Hinsicht meine aufrichtige Meinung hören willst, so muß ich dir sagen, daß ich in deinem
    Streite mit Sergei Iwanowitsch weder auf deiner noch auf seiner Seite stehe. Ihr habt alle beide unrecht. Du hast
    mehr in der äußeren Form unrecht und er mehr in sachlicher Hinsicht.«
    »Ei sieh! Das hast du also erfaßt? Das hast du erfaßt?« rief Nikolai freudig.
    »Ich persönlich aber, wenn du das wissen willst, lege auf die Freundschaft mit dir größeren Wert, weil ...«
    »Warum? Warum?«
    Konstantin konnte doch nicht wohl sagen, daß er dies deshalb tue, weil Nikolai unglücklich sei und eines
    Freundes bedürfe. Aber Nikolai zweifelte nicht, daß er gerade dies hatte sagen wollen, und griff wieder mit
    finsterer Miene nach dem Branntwein.
    »Lassen Sie es genug sein, Nikolai Dmitrijewitsch!« bat Marja Nikolajewna und streckte ihren rundlichen nackten
    Arm nach der Flasche aus.
    »Laß das! Sei nicht so dreist, oder du bekommst Schläge!« schrie er.
    Auf Marja Nikolajewnas Gesicht erschien ein sanftes, freundliches Lächeln, dem Nikolai nicht widerstehen konnte.
    Auch er lächelte, und sie nahm den Branntwein weg.
    »Meinst du etwa, daß sie dumm ist?« sagte Nikolai. »Sie versteht all das besser als wir alle. Nicht wahr, sie
    hat etwas so Gutes, Liebes an sich?«
    »Sind Sie früher nie in Moskau gewesen?« fragte Konstantin sie, um doch irgend etwas zu sagen.
    »Aber so sage doch nicht Sie zu ihr! Das ist ihr nur peinlich. Nie hat jemand Sie zu ihr gesagt, außer dem
    Friedensrichter, als sie in Anklagezustand versetzt war, weil sie aus dem Hause der Unzucht hatte davongehen
    wollen. – Mein Gott, was gibt es doch für Sinnlosigkeit in der Welt!« schrie er plötzlich auf. »Diese neuen
    Einrichtungen, diese Friedensrichter, der Kreistag, was für ein Unsinn ist das!«
    Und er begann von seinen Zusammenstößen mit den neuen Einrichtungen zu erzählen.
    Konstantin hörte ihm zu. Er selbst teilte Nikolais Ansicht von der Sinnlosigkeit aller dieser staatlichen
    Einrichtungen und hatte diese Ansicht oft genug ausgesprochen, aber dennoch war es ihm unangenehm, sie jetzt aus
    dem Munde des Bruders zu hören.
    »Im Jenseits werden wir das alles verstehen«, bemerkte er scherzend.
    »Im Jenseits? Ach, weißt du, das Jenseits kann ich nicht leiden! Ich kann es nicht leiden«, sagte er und heftete
    seine scheuen, verstörten Augen auf das Gesicht des Bruders. »Es wäre ja wohl ganz schön, aus all dieser Gemeinheit
    und Verworrenheit, fremder sowohl wie eigener, herauszukommen, aber ich fürchte mich vor dem Tode, ganz entsetzlich
    fürchte ich mich vor dem Tode.« Er schauderte. »Aber trink doch irgend etwas! Willst du Champagner? Oder komm, wir
    wollen irgendwohin fahren. Wir wollen zu den Zigeunern fahren! Weißt du, an den Zigeunern und an den russischen
    Volksliedern habe ich großen Geschmack bekommen.«
    Die Zunge wollte ihm nicht recht gehorchen, und er ging unvermittelt von einem Gegenstande zum anderen über. Mit
    Marjas Hilfe redete ihm Konstantin seine Absicht, noch irgendwohin zu fahren, aus und brachte den vollkommen
    Betrunkenen ins Bett.
    Konstantin ließ sich von Marja versprechen, daß sie im Notfalle an ihn schreiben und Nikolai zureden werde, zu
    ihm aufs Land zu ziehen.

26
    Am Morgen war Konstantin Ljewin aus Moskau abgefahren, und gegen Abend langte er zu Hause an. Unterwegs auf der
    Bahn hatte er sich mit seinen Reisegefährten über Politik und über neue Eisenbahnlinien unterhalten, und ebenso wie
    in Moskau waren ihm seine Begriffe in Verwirrung geraten, und eine Unzufriedenheit mit sich selbst und ein
    eigentümliches Schamgefühl hatten ihn befallen. Aber als er nun auf seiner Station ausstieg und seinen krummen
    Kutscher Ignat mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen erblickte und als er in dem schwachen Lichtschimmer, der durch
    die Fenster des Bahnhofsgebäudes drang, seinen mit Decken wohlversehenen Schlitten und seine Pferde mit den
    aufgebundenen Schwänzen, in dem mit Ringen und Fransen verzierten Geschirr, sah und als der Kutscher Ignat, noch
    während das Gepäck aufgeladen wurde, ihm die Gutsneuigkeiten erzählte, daß ein Agent für Arbeitskräfte angekommen
    sei und daß Pawa gekalbt habe: da fühlte er, daß die Verwirrung in seinem Kopfe sich allmählich löste und das
    Gefühl der Scham und der

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