Anna Karenina
und ein schlaues, lustiges Lächeln, wie man es nach den Tränen
gar nicht hätte erwarten sollen, spielte um ihre Lippen.
»Nun, dann werden sie wohl sehr heiter sein, deine skeletons, und nicht finster und drohend«, meinte Dolly
lächelnd.
»Nein, sie sind finster und drohend. Weißt du wohl, warum ich heute abreise und nicht erst morgen? Ich habe
etwas auf dem Herzen, was mich schwer bedrückt, und ich will es dir jetzt beichten«, sagte Anna. Sie lehnte sich
mit entschlossener Miene in ihrem Sessel zurück und blickte ihrer Schwägerin offen in die Augen.
Und zu ihrem Erstaunen sah Dolly, daß Anna bis an die Ohren errötet war, bis an die schwarzen Löckchen, die sich
hinten an ihrem Halse kräuselten.
»Ja«, fuhr Anna fort. »Weißt du auch wohl, warum Kitty nicht zum Mittagessen gekommen ist? Sie ist auf mich
eifersüchtig. Ich habe ihr diesen Ball verdorben; ich meine, ich bin die Veranlassung gewesen, weshalb dieser Ball
für sie eine Qual und nicht eine Freude war. Aber wahrhaftig, wahrhaftig, ich trage keine Schuld oder doch nur ganz
wenig«, sagte sie, wobei sie mit hoher Stimme auf den Worten »ganz wenig« verweilte.
»Ach, was hattest du eben für eine überraschende Ähnlichkeit mit Stiwa, als du das sagtest!« rief Dolly
lachend.
Anna nahm das übel.
»O nein, o nein! Ich bin nicht wie Stiwa«, versetzte sie stirnrunzelnd. »Gerade deshalb sage ich es dir ja, weil
ich mich auch nicht für einen Augenblick unsicher fühle.«
Aber in diesem Augenblicke, in dem sie diese Worte aussprach, wurde sie sich bewußt, daß sie unwahr waren; sie
fühlte sich nicht nur unsicher, sondern sie empfand schon bei dem bloßen Gedanken an Wronski eine starke Erregung
und reiste nur deswegen früher ab, als sie ursprünglich beabsichtigt hatte, um nicht mehr mit ihm
zusammenzutreffen.
»Ja, Stiwa hat mir erzählt, du hättest mit ihm die Masurka getanzt, und er hätte ...«
»Du kannst dir gar keine Vorstellung davon machen, wie komisch die ganze Geschichte war. Ich dachte an weiter
nichts, als wie ich wohl helfen könnte, diese Heirat zustande zu bringen, und nun kam die Sache auf einmal so ganz
anders. Vielleicht habe ich sogar wider meinen Willen ...«
Sie errötete und brach ab.
»Ja, die Leute merken so etwas sofort«, sagte Dolly.
»Aber ich wäre in Verzweiflung, wenn dabei auf seiner Seite irgend etwas Ernsteres vorliegen sollte«, unterbrach
Anna sie. »Und ich bin überzeugt, daß das alles bald wieder vergessen sein und Kitty mich nicht mehr hassen
wird.«
»Übrigens, Anna, um dir die Wahrheit zu sagen: Ich wünsche für Kitty diese Heirat gar nicht einmal so besonders.
Und wenn er, Wronski, es fertiggebracht hat, sich in dich an einem einzigen Tage zu verlieben, dann ist es schon
das beste, daß die Sache auseinandergeht.«
»O Gott, das wäre aber doch zu dumm!« rief Anna, und von neuem überzog eine dunkle Röte ihr Gesicht, diesmal vor
Freude, als sie den Gedanken, der sie selbst beschäftigte, von einem anderen aussprechen hörte. »So reise ich also
nun ab, nachdem ich mir Kitty, die ich doch so liebgewonnen hatte, zur Feindin gemacht habe! Ach, was ist sie für
ein liebes, gutes Wesen! Aber du wirst das schon wieder in Ordnung bringen, Dolly. Nicht wahr?«
Dolly konnte kaum ein Lächeln unterdrücken. Sie liebte Anna; aber sie sah mit einer gewissen Befriedigung, daß
auch diese nicht frei von Schwächen war.
»Zur Feindin? Das ist unmöglich.«
»Ich wünschte von ganzem Herzen, daß ihr alle mich so liebhaben möchtet, wie ich euch liebhabe. Und jetzt habe
ich euch noch weit mehr liebgewonnen«, sagte Anna mit Tränen in den Augen. »Ach, wie dumm ich doch heute bin!«
Sie fuhr sich mit dem Taschentuche über das Gesicht und begann sich umzukleiden.
Erst ganz kurz vor der Abfahrt nach dem Bahnhof kam Stepan Arkadjewitsch nach Hause, der sich verspätet hatte;
er hatte ein rotes, vergnügtes Gesicht und roch nach Wein und Zigarren.
Annas gerührte Stimmung war auch auf Dolly übergegangen, und als sie ihre Schwägerin zum letzten Male umarmte,
flüsterte sie ihr zu: »Sei versichert, Anna, ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. Und sei auch
versichert, daß ich dich liebhabe und immer liebhaben werde als meine beste Freundin!«
»Ich weiß gar nicht, wie ich das verdiene«, erwiderte Anna, indem sie sie küßte und ihre Tränen verbarg.
»Du hast mein Herz verstanden und verstehst mich auch jetzt. Lebe wohl, du Liebe,
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