Anna Karenina
so malte er sich das aus – eine
Erneuerung jenes entzückenden, heiligen Frauenideals sein, das seine Mutter gewesen war.
Die Liebe zu einer Frau konnte er sich gar nicht ohne die Ehe vorstellen, ja er stellte sich zuerst die Kinder
vor und dann erst die Frau, die ihm die Kinder bescheren würde. Seine Begriffe vom Heiraten waren daher himmelweit
verschieden von den Begriffen seiner meisten Bekannten, für die das Heiraten ein gewöhnliches Geschäft war wie
viele andere. Für Ljewin war die Eheschließung die wichtigste Handlung des Lebens, von der das ganze Lebensglück
abhing. Und jetzt mußte er diesem Glücke entsagen.
Als er in die kleine Wohnstube, sein übliches Teezimmer, getreten war und sich nun mit einem Buche in seinen
Lehnstuhl niederließ und Agafja Michailowna ihm den Tee brachte und dann mit ihrer herkömmlichen Redewendung: »Na,
ich setze mich auch her, Väterchen!« sich auf einen Stuhl am Fenster setzte, da fühlte er, daß, so sonderbar es
auch sein mochte, er von seinen Glücksträumereien noch nicht Abschied genommen hatte und daß er ohne ihre
Verwirklichung nicht leben könne. Ob nun mit ihr oder mit einer anderen, aber geschehen mußte es. Er las in seinem
Buche, dachte über das Gelesene nach, machte eine Pause darin, um auf Agafja Michailowna zu hören, die unermüdlich
plauderte; aber gleichzeitig traten ihm allerlei Bilder aus seiner Wirtschaft und aus seinem künftigen
Familienleben vor das geistige Auge, ohne Verknüpfung miteinander. Er fühlte, wie etwas in der Tiefe seiner Seele
sich festgesetzt, dann sich auf engeren Raum beschränkt und sich nun endgültig zurechtgelagert hatte.
Er hörte zu, wie Agafja Michailowna erzählte, daß dieser Prochor doch ein ganz gottvergessener Mensch sei und
das Geld, das ihm Ljewin zum Ankauf eines Pferdes geschenkt habe, vertrinke, ohne jemals aus dem Rausche
herauszukommen, und daß er seine Frau beinahe zu Tode geprügelt habe. Er hörte zu und las in dem Buche und
erinnerte sich der ganzen Gedankenreihe, die dieses Lesen das vorige Mal in ihm wachgerufen hatte. Es war Tyndalls
Buch über die Wärme. Er erinnerte sich, wie ihm an Tyndall mißfallen hatte, daß er so selbstgefällig von seiner
Geschicklichkeit im Experimentieren spreche und keiner philosophischen Anschauung fähig sei. Und plötzlich kam ihm
ein freudiger Gedanke dazwischen: ›In zwei Jahren werde ich in der Herde zwei Holländer Tiere haben; auch Pawa
selbst kann noch hinreichend frisch sein; dazu zwölf junge Nachkommen von Berkut; da kann ich günstigenfalls die
drei zur Kreuzung benutzen, – wundervoll!‹ Er griff wieder nach dem Buche. ›Nun gut, Elektrizität und Wärme sollen
ein und dasselbe sein; aber kann man denn, wenn es sich um die Lösung einer Aufgabe auf diesem Gebiete handelt, in
einer Gleichung die eine Größe für die andere setzen? Nein. Also wie steht es damit? Einen gewissen Zusammenhang
zwischen allen Naturkräften spürt man ja auch so schon durch den bloßen Instinkt. – Besonders hübsch wird es sein,
wenn Pawas Kalb erst eine rotscheckige Kuh sein wird und vielleicht ebenso die ganze Herde, die ich aus der
Kreuzung mit diesen dreien erzielen will. – Prächtig! Dann werde ich mit meiner Frau und unseren Gästen die Herde
besehen. – Meine Frau sagt: »Dieses Kalb hier haben Konstantin und ich wie ein Kind großgezogen.« »Wie kann Sie das
nur so interessieren?« sagt einer der Gäste. »Alles, was ihn interessiert, interessiert auch mich.« Ja, aber wer
wird sie sein?‹ Hier mußte er an das denken, was ihm in Moskau begegnet war. – ›Nun, was ist da zu machen? Meine
Schuld ist es nicht gewesen. Aber jetzt soll alles einen neuen Gang nehmen. Es ist Torheit, zu glauben, daß das
wirkliche Leben dem entgegenstünde und daß die Vergangenheit dem entgegenstünde. Ich will alle meine Kraft
daransetzen, um ein besseres, ein weit besseres Leben zu führen.‹ Er hob den Kopf in die Höhe und überließ sich
seinen Gedanken. Die alte Laska, die mit ihrer Freude über seine Ankunft noch nicht ganz zurechtgekommen und auf
den Hof gerannt war, um sich auszubellen, kam nun schwanzwedelnd zurück, wobei sie den Geruch von frischer Luft mit
ins Zimmer brachte, lief zu ihm hin, schob den Kopf unter seine Hand und verlangte mit kläglichem Winseln, daß er
sie liebkosen möchte.
»Nur, daß sie nicht sprechen kann«, sagte Agafja Michailowna. »So ein Tier! Sie versteht, daß ihr Herr
zurückgekommen und traurig
Weitere Kostenlose Bücher