Anna Marx 9: Feuer bitte
Kleiderständer Verwendung findet. Eigentlich sieht er verhüllt besser aus. Sie hat ihn von den Vormietern geerbt, und er ist zu groß, um problemlos entsorgt zu werden. Einmal, in einem seltenen Anflug häuslicher Energie, hat sie versucht, ihn in den Müllcontainer zu stopfen. Vergeblich, also trug sie ihn wieder nach oben und beschloss, ihn fortan zu mögen. Sie hätte ihn vermisst. Er ist so stabil, dass er auch Handtaschen trägt, doch den kleinen Koffer wirft Anna auf die Couch. Sie ist so alt, dass das Leder von feinen Rissen durchzogen ist. Liebling meinte, dass die Couch eine Restauration wert sei. Der Ort ihrer ersten nackten Begegnung, bevor sie ins bequemere Bett wechselten. Die Premiere ist immer ein Ereignis, gefolgt von Aufführungen unterschiedlicher Qualität.
Ihn als »Henkersmahlzeit« zu bezeichnen, war vielleicht gar nicht so falsch. Wer weiß, ob auf Liebling noch einer folgt. Einer, der sich auf die alte Couch und auf die alte Anna legt und gnädig das Licht löscht. Die Welt wird mit den Jahren kleiner. Übersichtlicher. Der Ballast der freien Wahl und der unendlichen Möglichkeiten wird nach und nach abgeworfen. Man beschränkt sich auf das Wesentliche. Was man dafür hält: So lang wie möglich überleben, und dies im Zustand von Gelassenheit, die bisweilen in Glück ausarten kann.
Priester haben in Annas Zelle nach wie vor keinen Zutritt. Die katholische Erziehung hat in ihrem Fall versagt. Irgendwann in den Bonner Jahren ist sie aus der Kirche ausgetreten. Eine päpstliche Entscheidung: Rigide alte Männer waren ihr immer schon ein Gräuel.
Anna, an ihrem Schreibtisch, sortiert die Post, die sie mit einer Haarklammer aus dem Briefkasten gefischt hat, weil der Schlüssel irgendwann verschwunden ist. Es erscheint ihr einfacher, jeden Tag das Kunststück zu vollbringen, als sich einen neuen Schlüssel zu besorgen. Ausdruck schöpferischer Faulheit: Anna schlitzt die Briefe mit dem Fingernagel auf, weil auch Brieföffner nicht zu den überlebenswichtigen Dingen zählen.
Rechnungen fallen auf den Schreibtisch und wandern in den großen Ablagekorb, den Anna alle zwei Monate leert. Bankauszüge, die bedrohlich erscheinen. Rechnungen, Mahnungen … Josef Gangwein hat ihr ein Gedicht geschickt, und Anna errötet, während sie es liest. Zündet sich sofort eine Zigarette an, und liest es nochmals. Es ist ein erotisches Poem, von Hand geschrieben. Einige Passagen erinnern sie an bereits Gelesenes. Heiratsschwindler und Plagiator? Nun, es würde irgendwie zusammenpassen.
Er hat seine Telefonnummer mit einem Ausrufungszeichen versehen, also wartet er auf ihren Anruf. Sie hat Gangwein nur ihre Handynummer verraten, doch mit ein wenig Mühe könnte er ihren Wohnort herausfinden. Sollte er einen der Nachbarn aushorchen, würde ihr Lügengebäude schnell zusammenbrechen. Anna Marx, Detektivin: Das Schild ist geklaut und nie ersetzt worden, also müsste er fragen. Na, und wenn schon, es war ohnehin eine Schnapsidee, sich als Köder anzubieten.
Anna verdrängt die Gedanken an eine Mission, die scheitern wird, und legt sich auf die alte Couch. Zwei Stunden Schlaf bis zu ihrem Treffen mit Eva Mauz wären schön, doch sie hat Angst, nicht rechtzeitig aufzuwachen. Der Wecker ist kaputt, und sie hat vergessen, einen neuen zu besorgen. Man müsse ihr ein Denkmal der Unvollkommenheit setzen, sagte Liebling, und es klang sehr nett.
Weshalb fällt ihr nur kein besseres Wort ein, wenn sie an ihn denkt? Vielleicht, weil sie ahnt, dass er alles andere als das ist. Wunschdenken also, und glauben die Frauen nicht immer, dass sie Männer nach ihrem Bilde formen können?
Und wenn sie alt genug sind, es besser zu wissen, klammern sie sich an die Hoffnung, die Ausnahme von der Regel zu finden. Oder sie werden traurig oder zynisch und sterben einsam. Und am Ende aller Hoffnungen lauert der Tod. Gott, sie ist auf dem besten Weg, sich von Sibylles Depressionen anstecken zu lassen. Sie muss sich mehr um sie kümmern. Freundschaft verpflichtet, auch wenn es bequemer wäre, Sibylles Launen auszuweichen. Sie wollte doch nie feige sein – und ist es schon so oft gewesen. Die Müdigkeit ist wie ein großes, weiches Netz, in dem sich alle Gedanken verlieren …
Nicht einschlafen! Anna setzt sich auf und greift nach der Zigarettenpackung. Das Suchtpotenzial des Rauchens ist eindeutig auf Nikotin zurückzuführen. Hat sie von Liebling, der als Berater der Tabaklobby die Argumente seiner Feinde bestens kennt. Nikotin, aus
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