Anna Marx 9: Feuer bitte
für Kinder und Jugendliche mit 11,8 Millionen Euro. Toleranz muss erkauft werden, wenn es kein gemeinsames moralisches Anliegen gibt. Und bei der Vorstellung, dass Claudia an seinem Grab tanzt, wird Liebling übel. Er sieht auf seine Uhr und beschließt, früher zum Flughafen zu fahren. Er wird Rosen kaufen und die Zeit des Wartens genießen. Die beste Zeit ist immer die der Sehnsucht. Alle Erwartungen werden nie erfüllt, das weiß er inzwischen. Doch die Hoffnung stirbt nicht. Anna sei Dank: Sie ist eine so optimistische Verliererin. Die wandelnde Lebensgier, gepaart mit ironischer Melancholie. Ein Mensch mit so vielen Widersprüchen, dass die Summe ein großes, rundes Ganzes ergibt.
Es muss ein besonderer Tag in Brüssel werden. Den Termin in der neuen bayerischen Landesvertretung hat er von seiner Sekretärin absagen lassen. Anna mit Bier und Leberkäse zu füttern, erschien ihm unromantisch. Und vermutlich würde sie sich auf CSU-Terrain danebenbenehmen, sie hat ein loses linkes Maul.
Die »bayerische Botschaft«, im Endstadium der Renovierung, liegt in seinem Blickfeld, direkt neben dem Parlamentsgebäude. Sieht aus wie Neuschwanstein im Zwergformat, denkt Liebling, und dass sie zu den Bayern passt, diese Trutzburg, deren Kauf und Instandsetzung dreißig Millionen Euro gekostet haben soll. Das europäische Viertel ist ein Ghetto, in dem das Geld auf der Straße liegt. Wer weiß, wie es geht, braucht es nur aufzuheben. Liebling ist nicht neidisch. Er versteht, dass der Geruch des Geldes verführerisch ist. Er hat ihn ein Leben lang inhaliert und kann sich kaum vorstellen, wie Anna zu leben: von der Hand in den Mund.
Er wird mit ihr in teure Schuhgeschäfte gehen, um sie glücklich zu machen. Weil sie sich über Luxus freuen kann wie ein Kind. Und vielleicht wird er ihr beim Abendessen von der verschwundenen Diskette erzählen. Anna ist Detektivin, doch andererseits, nein, sie könnte alles missverstehen. Lieben Schnüffler Spione? Obwohl er sich doch eher als Biograph Brüsseler Spitzen versteht. Nein, das Risiko erscheint Liebling zu hoch. Er hat selten den Fehler der Offenbarung begangen und ist niemals zur Beichte geschritten, wofür ihn seine bigotte Großmutter beinahe enterbt hätte.
Während er die Rechnung begleicht und dem müden Kellner ein viel zu hohes Trinkgeld gibt, denkt er an Bruno, seinen Assistenten, und Alicia, die Sekretärin. In all den Jahren erschienen sie ihm immer nur als willige Diener ihres Herrn ohne jeden persönlichen Ehrgeiz. Er hat sie gut bezahlt und behandelt und dafür Loyalität vorausgesetzt. Und was, wenn er sich in ihnen täuscht? Erfolg ist eine gefährliche Droge, weil sie einen in Sicherheit wiegt. Du bist nirgendwo sicher. Vor niemandem. Und wenn du das dennoch glaubst, wirst du in Brüssel auf der Straße erschlagen. Von einem Junkie, der ein paar Euro für einen Schuss braucht.
7. Kapitel
»Er ist wirklich nett.«
»Das reicht nicht.«
»Mir schon. Ich bin einundfünfzig. Betrachte ihn doch einfach als meine Henkersmahlzeit.«
Sibylle sieht ihre Freundin mit schrägem Blick an. Anna ist aus Brüssel eingeflogen und zum späten Frühstück in die Kneipe gekommen. Sie sieht müde aus, durchtränkt von dieser trägen Mattigkeit, die mit Sex zu tun hat. Sibylle verspürt Eifersucht, ein hassenswertes Gefühl, das sie nicht kannte, bevor sie Mutter wurde. Sie braucht Anna. Italien wartet, und niemals wird sie es schaffen, dieses Kind allein großzuziehen. Es ist nicht fair, dass gerade jetzt einer aufkreuzt, der Liebling heißt und ihre Zukunftspläne gefährdet. Anna Liebling: Sibylle spürt Panik bei diesem Gedanken. Was für ein lächerlicher Name! Sie könnte ihn umbringen.
Sie ist nicht mehr fähig, klar zu denken. Jede Kleinigkeit mutiert zur Katastrophe, und jede Katastrophe zum Weltuntergang. Sibylle weiß genau, woran es liegt: an der Folter der Schlaflosigkeit. Es sind die kurzen Nächte mit Jonathan, das Wechselbad aus Schreien, Aufwachen, Hassen, Lieben, Trösten, Schlafen, Schreien … und auch ihn könnte sie in ihren schlimmsten Phasen umbringen, nur damit er sie in Ruhe lässt. Ein Kissen auf das kleine Gesicht drücken …
Sie kann es niemandem sagen. Es ist zu furchtbar, und nicht einmal Anna würde verstehen. Sieht denn keiner, dass sie am Rande des Zusammenbruchs auf einem Faden aus Zahnseide balanciert? Anna, mit ihrem Liebling und dem Heiratsschwindler beschäftigt, ist kein Netz, das sie noch auffangen könnte. Und wenn Anna noch einmal
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