Anna Marx 9: Feuer bitte
fermentierten Tabakpflanzen gewonnen, würde, wenn man es isolierte, eine farblose Flüssigkeit ergeben, eines der stärksten Pflanzengifte überhaupt. Die Tabakpflanze Nikotiana gehört zu den Nachtschattengewächsen. 50 bis 100 Milligramm können tödlich sein, die Menge, die in fünf bis zehn Zigaretten enthalten ist. Bloß gelangt davon beim Rauchen nur ein geringer Teil in den Organismus.
Anna bläst Rauch an die Decke. Das Leben ist gefährlich, denn es endet mit dem Tod. Zigaretten enthalten bis zu 4000 verschiedene Substanzen, die zum Teil krebserregend sind, wie Kadmium, Nitrosamine, Benzol und das radioaktive Polonium. Anna ist süchtig, voller Todessehnsucht und gleichzeitiger Angst vor dem Sterben. Liebling ist vom Thema Rauch fasziniert, vielleicht, weil so viel Geld darin steckt. 100 Milliarden Dollar pro Jahr verdienen allein die Regierungen am blauen Dunst, ganz zu schweigen von den Gewinnspannen der Tabakkonzerne. Martin Liebling vermittelt Kontakte zwischen den EU-Beamten und Lobbyisten, oder auch zu Professoren, die Gegengutachten zu den Gutachten erstellen, um politischen Entscheidungsträgern jenseits kapitaler Interessen wissenschaftliche Argumente zu liefern.
»Ein kompliziertes Spiel um eine einfache Sache: Geld.« Liebling lächelte gewinnend, als er das sagte. Und als Anna ihn fragte, ob es nicht auch ein unmoralisches Spiel sei, zuckte er lässig mit den Achseln. Hat er nicht etwas von Pontius Pilatus? Er macht nur seinen Job, und seine weichen, weißen Hände bleiben sauber. Die Rechte legte er auf Annas Hand und fragte, ob sie eine Moralistin sei.
Sie dachte darüber nach, bevor sie antwortete. Sagte, »vielleicht«, weil sie nicht sicher war. Und dann kam das Essen, und sie sprachen über Schuhe, Annas Marotte, und das wundervolle, sündhaft teure Paar, das er ihr am Nachmittag gekauft hatte. Wie viele Laster dürfen Moralisten haben? Anna verwarf die Frage und widmete sich ihren Langusten. Zu viel Butter in der Sauce, sie waren sich darüber einig, dass das Brüsseler Essen schwerer wiegt als der Berliner Edelfraß. Er machte sich über seinen Bauch lustig, und Anna verriet ihm, dass sie sich ihr Leben lang nach stromlinienförmigen Formen gesehnt hatte. Die schlanke Seele, der gefräßige Magen, das Rubensfett: Männer mit Waschbrettbäuchen haben sie immer zutiefst deprimiert. Diäten auch, und seit Jahren hat sie aufgegeben, ihrem Schönheitsideal nachzujagen. Sie meidet Boutiquen mit arroganten Verkäuferinnen und die grell beleuchteten Umkleidekabinen in Kaufhäusern. Ersteht nur Kleidungsstücke, die sie nicht anprobieren muss. Und natürlich Schuhe: Ihr Leben lang wird sie auf der Suche nach dem schönen und bequemen Paar sein, und sich im Zweifelsfall immer für Ersteres entscheiden.
Liebling, der nur schwarze und handgefertigte Schnürschuhe trägt, fliegt zum Einkaufen nach Budapest. Er versprach, sie das nächste Mal mitzunehmen, und würden zu ihren Hosenanzügen nicht auch Männerschuhe passen? Dann wäre sie kleiner als er, sagte Anna, und dass sie es hasse, zu jemandem aufzuschauen. Später, in seinem großen Bett neben dem riesigen Aquarium, in dem Nemo-Fische ihre Kreise zogen, waren Größenunterschiede ohne Bedeutung. Ihre synchronen Bewegungen spiegelten sich schemenhaft im Fischbehälter, und Anna, rotweinschwer, trug Lieblings Last mit Leichtigkeit. Bemühte sich ab einem gewissen Punkt, nicht einzuschlafen. Fische glotzten durch Glas aus ihrem illuminierten Gefängnis. Schließlich sagte sie ihm, dass Marathonsex nichts für ältere Damen sei, und Liebling rollte von ihr ab und erklärte sich für unfähig, zum Ende zu kommen. Der Bordeaux sei schuld, zu viel Wein habe leider diese Nebenwirkung. Doch wage er zu hoffen, dass Anna zu ihrem Recht gekommen sei.
Worauf sie lachte, weil ihr diese Diskussion über Frauenrechte absurd erschien. Liebling war erleichtert, und weil alles nicht perfekt, aber gut war, sahen sie sich noch einen Vampirfilm in seinem Fernsehkino an. Anna schlief in seinen Armen ein und wachte erst auf, als er ihr Frühstück ans Bett brachte. Keine Zeit mehr für Sex, denn sie musste ihr Flugzeug erreichen. Zum Abschied küsste er sie auf die Wange und murmelte ihr etwas ins Ohr, das französisch klang. Lost in Translation, sie schämte sich, nach der Übersetzung zu fragen, und drehte sich nicht um, als sie zum Schalter ging.
Es quält sie jetzt, dass sie ihn nicht verstanden hat. Sie liegt schlaflos auf der Couch und würde zu gerne
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