Anna Marx 9: Feuer bitte
mit weißen Ledersitzen, und er parkt vor der Tür des renovierten Altbaus. Es gibt noch Parkplätze in Berlin, obwohl Anna sie gar nicht mehr braucht. Es freut sie, dass auch Designertäschchen Schlüssel schlucken.
»Julia hat natürlich nicht darüber gesprochen, doch sie wollte schon Kinder. Winfried allerdings war strikt dagegen, und sie hat sich gefügt. Er hat den Gedanken nicht ertragen, dass Kinder sich an seiner Insektensammlung vergreifen könnten. Er war ein komischer Kauz, und ich habe nie kapiert, warum sie ihn geheiratet hat. Der Mann hat jede exotische Schabe mehr geliebt als meine Schwester. Es war weiß Gott keine glückliche Ehe, aber Julia war nicht der Typ, der eine einmal getroffene Entscheidung infrage stellt. Fügte sich in ihr Schicksal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Mein verstorbener Gatte und ich hingegen, wir waren uns immer einig: kein Nachwuchs. Wertvolle Möbel und Kinder passen einfach nicht zusammen, finden Sie nicht auch?«
Eva Mauz erwartet keine Antworte auf ihre Frage. Nach einem »Viel Glück bei der Suche« geht sie zur Tür, die sie geräuschvoll von außen schließt. Endlich allein! Anna zündet sich eine Zigarette an und sucht vergeblich nach einem Aschenbecher. Julia hatte keine Laster, zumindest keine der üblichen Sorte. Eine gewisse Traurigkeit als Grundstimmung verfährt zu großer Schlamperei à la Marx oder pedantischer Ordnungsliebe, wie Julia sie pflegte. Staunend betrachtet Anna die penible Anordnung von Geschirr und Töpfen, bevor sie ins Wohnzimmer geht, den Ort, an dem Julia ihren Strick knüpfte. Er war aus reißfestem Nylon. Sie wusste, was sie tat.
Das Zimmer ist groß und dunkel, mit schweren Teppichen und Damastvorhängen, die sich auf Knopfdruck zurückziehen. Die große weiße Couch wäre ein Lichtblick, wenn sie nicht von grauen Schonbezügen verhüllt wäre. Wer würde in diese Gruft einziehen wollen? Anna öffnet alle Fenster, atmet Wärme und wirft ihre Zigarette auf die Straße. Sie ist eine große Umweltsünderin, die nicht einmal ihren Müll trennt. Eine lausige Detektivin ist sie auch, doch darüber will sie jetzt nicht nachdenken. Sie geht zum Bücherschrank, der eine Wand einnimmt, und denkt an die gottverdammte Nadel im Heuhaufen.
Das Buchdekor der gehobenen Mittelklasse: Neben den Klassikern, die jungfräulich wirken, gibt es viele Bücher über Insektenforschung in Deutsch, Englisch und Spanisch, die gewöhnlichen Bestseller, Kunstbände, Reisebücher und historische Romane, die Julia Mauz offenbar liebte. Frauen sind die Bewahrerinnen der Belletristik, weil sie neugierig auf Abenteuer sind. Das Leben genügt nicht, wie es ist. Auch Julia hatte keine Idee, wie sie das ändern sollte. Doch, schon. Und hat sie in ihren letzten klaren Sekunden gedacht, dass es die richtige Entscheidung war?
Famous last words … »Scheiße« wäre ein zu Anna passender Abgesang. Aber ohne Reue, so möchte sie schon gerne sterben. Sie blättert in einem Gedichtband von Erich Fried und verliert sich in seinen Sätzen. Und wenn wir das Leben lieben, können wir nicht ganz lieblos gegen diese unsere Zeit sein. Wir müssen sie ja nicht genau so lassen, wie sie uns traf.
Lesen und denken ist aus der Mode gekommen. Die Zeit verkommt, verlaust, verfilzt mit all dem Dreck, den Fernsehsender frei Haus liefern. Anna stellt das Buch zurück ins Regal … und schreit auf, als sie nach dem nächsten greift: So klein und schmal, dass sie es bei der ersten Suche übersehen hat:
»Hautfetzen« von Josef Gangwein.
»Jetzt eine Widmung, und ich habe dich«, sagt Anna laut, als sie den Band aufschlägt. Aber so einfach hat er es ihr nicht gemacht. Keine handgeschriebene Zeile des Dichters, sie blättert jede Seite um. Es sind dreißig kurze Gedichte, mehr hat er nicht zu Papier gebracht. Anna liest jedes von ihnen: Sie sind nicht schlecht, nur hat sie wiederum das Gefühl, alles schon zu kennen. Als ob der Dichter alle Lyrik dieser Welt wie ein Schwamm aufgesogen und mit leichten Variationen wieder hervorgebracht hätte.
Julia hat viele Lyrikbände. Natürlich ist es möglich, dass sie die »Hautfetzen« gekauft hat. Wenn es ein Geschenk war, hätte sie nicht eine Widmung erbeten? Und er, der große Spurenverwischer, hätte geantwortet, dass er dies banal finde. Ein Wort, das Gangwein oft gebraucht, allerdings nicht in seiner Lyrik. Wofür Anna dankbar ist, denn in gewisser Weise mag sie den Poeten, Plagiator, Heiratsschwindler. Alles Hypothesen, vielleicht ist er
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