Anna Marx 9: Feuer bitte
Zahnreihen. Schönheit, dachte Bruno, werde ich mir später auch kaufen, aber keine alten Schinken, sondern junges Fleisch. Jeder nach seinem Gusto, wenn er’s bezahlen kann. Martin, Gott hab ihn selig, hatte keine hohe Meinung von Schultz, vielleicht hat er ihn sogar gefürchtet. Bruno teilt diese Angst nicht. Der Amerikaner in Brüssel ist dem Intrigenspiel des alten Europa nicht gewachsen. Zu plump, zu direkt – und das Einzige, was für ihn spricht, sind die Summen, die er zu verteilen hat. Der Tabakkonzern im Rücken ist das Interessante an John Schultz – und vielleicht ein arroganter Mangel an Manieren. Wovor hat Martin sich gefürchtet?
»Tut mir Leid um Ihren Boss. Er war ein netter Kerl. Mir gefallen seine Memoiren, wirklich gute Arbeit.« Schultz lehnt sich in dem Bistrostuhl zurück und grinst mit breitem Mund und schmalen Augen. Bruno schaut auf den Aktenkoffer, der dicht neben seinem Stuhl am Boden steht. Nach allem, was er weiß, befindet sich eine Million darin, es ist doch erstaunlich, wie wenig Platz Geld einnimmt. Eine Million für die Diskette, die John so hübsch als »Memoiren« bezeichnet. Das gesammelte Werk des Martin Liebling über die Brüsseler Spitzen, ihre Hobbys, Begierden und Leidenschaften. Es gibt Bücher, für die mehr bezahlt wurde, doch erscheint Bruno dieser Betrag angemessen in Anbetracht der kleinen Leistung, die er dafür erbringen musste. Er hat die Diskette entwendet, einfach aus der Schublade genommen, als Martin einmal vergessen hatte, sie im Safe einzuschließen.
Es war eine Tat ohne besonderen Vorsatz, reiner Zufall, dass er das Ding entdeckte, und der Impuls, es einzustecken, war durchaus spontan. Keine Scham, keine Reue, Bruno zieht es vor, an Glück zu glauben. Einmal im Leben hatte er Glück, und er hat es ergriffen und mit beiden Händen festgehalten.
So schlampig, wie Martin war, fiel es ihm zunächst gar nicht auf. Erst als er die Diskette suchte, im Safe und dann überall im Büro, muss ihm der Gedanke gekommen sein, dass fremde Hände im Spiel waren. Er hat Alicia eingeweiht, davon ist Bruno überzeugt, doch zu ihm hat er kein Wort über die Diskette verloren. Der Gedanke ist bitter, dass er ihm nicht einmal einen Diebstahl zugetraut hat. Der gute alte Bruno mit seinen grauen Anzügen, den grauen Schläfen und der grauen Brille: Man sollte das Grau nicht missachten, weil es für Tarnung steht und für verdeckte Brillanz.
Unterschätzt zu werden, das scheint sich wie ein roter Faden durch Brunos Leben zu ziehen. Begann schon in der Schule, setzte sich an der Universität fort und erstreckt sich auch auf alle Bereiche seines Liebeslebens. Die Ehefrau, sie ist lieb und nett, aber gewiss nicht erste Wahl. Sie war das, was er kriegen konnte, und er hat es genommen. Wie die Diskette, die er zufällig fand, als er in Martins Schreibtisch stöberte, mehr oder weniger aus harmloser Neugierde. Als er sie einsteckte, wusste er ja nicht, dass er einen Schatz gehoben hatte. Das wurde ihm erst klar, als er abends vor seinem Computer saß und die Namen las, das Buch der Eurokraten und ihrer kleinen und großen Schwächen. Manches ist einfach nur komisch, wie die Leidenschaft eines Kommissars für exotische, artengeschützte Zierfische. Anderes brisant, wie sexuelle Präferenzen oder finanzielle Transaktionen der bestechlichen Art. Als John Schultz im Büro anrief und schon beim ersten Treffen die Diskette ansprach, hat Bruno nur kurz gezögert, um sich dann an ein Lebensmotto zu halten, das seiner Form von Bescheidenheit entspricht: Besser den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach …
Eins Komma fünf Millionen Dollar: Die erste Tranche haben sie ihm auf ein Konto auf den Cayman Islands überwiesen. Den Rest hat Schultz in bar dabei. Es ist Geld aus Zigarettenschmuggel, davon geht Bruno aus. Dollars, Euros und Schweizer Franken – insgesamt eine Million. Schwarzgeld, das sie nicht mehr reinwaschen müssen, sondern in eine Diskette investierten. Er mag dieses Wort »Million«, es klingt rund und melodisch. Dr. Bruno Laurenz ist jetzt Millionär, und dafür sollte er Martin dankbar sein. Ist er aber nicht. Seinetwegen kann der Bastard in der Hölle schmoren.
»Ja, es ist ein großer Verlust«, sagt Bruno schließlich und zwingt sich, von dem Koffer weg in die Kojotenaugen zu sehen. Er senkt als Erster den Blick und rührt in seiner Kaffeetasse. Klugheit und Stärke gehen nicht unbedingt konform. Bruno ist ein Bildungsbürger, er hat promoviert und spricht fünf
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