Anna Marx 9: Feuer bitte
Deutschland an zweiter Stelle der EU-Korruptionsliste steht? Wir werden nur noch von Italien geschlagen, und die werden den nächsten Justizkommissar stellen. Das ist irgendwie komisch … oder auch nicht.«
»Nicht«, sagt Anna, »obwohl ich gerne lachen würde.« Die große Rothaarige und die kleine Blonde sehen einander an und denken, dass sie Freundschaft schließen könnten. Frauen brauchen einander in der Abwesenheit von Männern. Sie trägt keinen Ring, das ist Anna natürlich aufgefallen. Andererseits werden sich ihre Wege trennen, und der Austausch von Visitenkarten ist keine Garantie für ein Wiedersehen. Anna wird die Karte vermutlich verlegen, das passiert ihr öfter. Sie diskutieren sie nur kurz darüber, wer die Rechnung bezahlt. Anna gewinnt – oder verliert – und winkt dem Kellner, der dieses unverständliche Französisch spricht. Die Blonde wirft ihre Zigarettenpackung in die Handtasche und steht auf: »Tut mir Leid, ich muss jetzt los. Viel Glück bei den Recherchen; Liebling war ein netter Mann, aber auch sehr unentschieden, auf welcher Seite er steht. Vielleicht hat ihn das umgebracht.«
Sie ist ein bisschen überheblich, denkt Anna, während sie ihr die Hand schüttelt. Eindeutig zu blond für eine Moralistin, und wenn sie im »Métropole« wohnt, bezieht sie ja auch eine gewisse Position. »Danke – und Ihnen auch. Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen Bestseller …«
Die Autorin lächelt ungläubig, geht zur Tür und kommt noch einmal zurück. »Mir ist noch etwas eingefallen. Gestern, auf der Grand Place, dachte ich doch tatsächlich, dass ich Liebling gesehen hätte. Es war jedenfalls jemand, der ihm verdammt ähnlich sah.«
»Sind Sie ihm gefolgt?«
»Nein. Warum auch? Er ist doch tot.«
24. Kapitel
Die Autorin hat gelogen. Alle Frauen lügen. Männer auch. Von wegen Todsünde, denkt Anna, die auch irdischen Gesetzen skeptisch gegenübersteht. Sie fügt sich ihnen in gewissem Rahmen, weil das Prinzip des geringsten Widerstandes ihrer Trägheit entspricht. Mitnichten wäre sie zur Heroin geschaffen und würde unter der Folter alle und alles verraten, bevor man sie auch nur anfasste. Wenn es etwas gibt, worüber sie sich keine Illusionen mehr macht, dann ist es Anna Marx.
Religionsersatz ist das nicht, auch keine Anleitung zum glücklichen Leben. Eher der schärfere Blick durch sich selbst auf andere, und wenn sie einen menschlichen Makel verabscheut, dann den der Selbstgerechtigkeit. Eine Todsünde. Dafür ist sie nicht anfällig, während Selbstzweifel akzeptabel sind. Neugierde hält Anna in Bewegung, gewissermaßen in der Spur, die nur selten von ihr selbst gezogen wird. Sie folgt ihr: träge, neugierig, mit dem zweifelhaften Charme eines Bullterriers, der nicht mehr loslassen kann, selbst wenn er es wollte.
Diesem Gedanken folgt die Wahrnehmung, dass ihr Magen knurrt. Ein abstoßendes Geräusch, und die Autorin hat gelogen, weil sie an dem Abend nach dem Interview mit Martin Liebling das vollzog, was im modernen Sprachgebrauch »Qne-Night-Stand« genannt wird. Eine-Nacht-Ständer? Die Auswahl an verbalen Erotika ist beklagenswert, und Anna fällt keine gute Übersetzung ein. Nicht nur die Großkopfeten haben einen Hang zur Bestechlichkeit, es geht auch ein paar Treppen tiefer. Das Zimmermädchen, das Anna über die Hotelflure verfolgte, um etwas über John Schultz in Erfahrung zu bringen, sprach mit freizügiger Abscheu vom Liebesleben der Hotelgäste. Ein sprudelnder Quell von Informationen für einen Fünfzig-Euro-Schein, das war preiswert, und das Mädchen wollte ohnehin kündigen und nach Hause zurückkehren, wo es weniger lasterhaft zugeht: in den Iran.
Zwei Jahre lang hat sie stumm geputzt, die Flaschen aus den Zimmern entfernt, die Haare aus den Bidets und die Kondome aus den Betten. Und nun hat sie genug davon: von Amerikanern, die junge Männer aller Hautfarben mit aufs Zimmer nehmen; dem Greis, der seinen Mittagsschlaf mit Prostituierten garniert; dem Liebesleben einer Blondine. Frauen schien sie Verstöße gegen die Moral heftiger anzukreiden als Männern, sie war streng erzogen worden, und niemand hatte sie auf europäische Sittenlosigkeit vorbereitet. Auf Sodom und Gomorrha: Die Iranerin war katholisch und fühlte sich als Fremde unter Fremden. Anna verstand ihre Einsamkeit, die moralische Entrüstung schon weniger.
Während Anna ziellos durch die Stadt streift, unbeeindruckt von prächtigen Jugendstilfassaden und unverputzten Leitungen, immerhin den
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