Anna Marx 9: Feuer bitte
angenehmer: »Nein, Alicia hat mich angerufen beziehungsweise meine Mutter verständigt, bei der ich gerade zu Besuch war. Ich bin natürlich sofort hierhergekommen. Weiß man schon, wann das Begräbnis ist?«
Eine von beiden lügt, und Anna tut es auch: »Die Leiche ist heute freigegeben worden, und Ihr Exmann hat eine Feuerbestattung verfügt.« Er hat zu Anna darüber gesprochen, dieser Teil ist wahr. Was, wenn sich Helena bei den Anwälten über Anna Marx erkundigt? Ach was, es wird schon gut gehen. »Über Termine weiß ich nichts, vielleicht Anfang nächster Woche …«
Helena schlägt die Beine übereinander, sie scheint keine Schwierigkeiten mit der Couch zu haben. »Ich muss nämlich nach New York. Ein Freund von mir eröffnet eine Galerie, und er will mich unbedingt dabeihaben. Ich kenne ja alle wichtigen Leute.«
Ob sie mit Kunst zu tun habe, fragt Anna, und ihr Gegenüber lächelt akademisch. »Ich habe Kunstgeschichte studiert, Frau Marx, allerdings nie … wie soll ich sagen … gearbeitet, nur hier und da Freunden ausgeholfen. Geregelte Arbeit ist einfach nichts für mich, dazu bin ich zu … spontan. Man hat ja gar keine Zeit für schöne Dinge, wenn man in der Tretmühle ist. Martin hat das natürlich ganz anders gesehen, er war ein Workaholic. Darüber hat er mich sträflich vernachlässigt und … doch es war eine große Liebe, das können Sie mir glauben.«
Die Handbewegung deutet an, dass die Ehe über den Jordan ging. Anna zweifelt an Helenas letztem Satz. Helena hat ihn verlassen. Sie braucht Bewunderung, Anbetung, vollkommene Aufmerksamkeit – und das hat er wohl nicht durchgehalten. Sie inszeniert sich pausenlos, denkt Anna, und dass dies auf die Dauer verdammt anstrengend sein muss.
»Gibt es ein Testament? Ich bin zurzeit ziemlich pleite, ehrlich gesagt.«
Das Geständnis überrascht Anna. Sie ist ständig pleite, doch sie spricht nicht darüber. Sie stellt die Kaffeetasse vorsichtig auf den Glastisch. »Nein, bisher hat sich keines gefunden. David Liebling wäre in diesem Fall der Erbe seines Bruders. Wir suchen ihn, haben Sie eine Ahnung, wo er sich aufhalten könnte?«
Bildet sie sich das ein, oder zeigt das Kunstwerk Risse? Von einem Augenblick zum nächsten erscheint ihr Helena plötzlich alt. Müde, verbittert, vom Sockel ewiger Schönheit gestoßen und im Begriff, Staub zu werden.
»Im Spielcasino? Sie brauchen doch nur alle Spielhöllen dieser Welt abzusuchen, um David zu finden. Oder in den Betten aller Frauen unter sechzig. Mein Schwager wird ganz sicher auftauchen, wenn er Geld riecht. Er hat eine Nase dafür – und Hände, die damit beschäftigt sind, es pausenlos auszugeben. Dieser Mann hat in seinem Leben nicht einmal ernsthaft versucht, Geld durch Arbeit zu verdienen.«
Annas spöttisches Herz liegt auf der Zunge: »Ist das nicht in Ihrem Sinne? Oder habe ich Sie da etwas falsch verstanden?«
Das Helena-Lachen klingt wie klirrendes Eis. »Aber er ist doch ein Mann, meine Liebe, da gelten andere Vorgaben. Männer sind dazu da, Frauen ein schönes Leben zu ermöglichen, welchen anderen Zweck hätte ihre erbärmliche Existenz denn sonst? Und wenn sie nicht von Haus aus reich sind, müssen sie das Geld eben verdienen. David hat da etwas falsch verstanden. Er war ein Ausbeuter, Schmarotzer, eine nichtsnutzige Karikatur seines Bruders. Es ist ein Witz, dass er ihn beerben soll. Martin hätte das nicht gewollt. Ich bin sicher, dass es ein Testament gibt.«
»Wir müssten es nur finden«, murmelt Anna und betrachtet ihre zitternden Hände. Entzugserscheinungen. Eines Tages wird sie tot sein und mit ihrem letzten klaren Gedanken alles bereuen, was sie falsch gemacht hat. Bis dahin atmet sie ergeben weiter. »Hier ist er nicht aufgetaucht?«
Helena wirft den Kopf zurück, ein Geste gekonnter Arroganz. »Nicht, solange ich hier bin, das würde er nicht wagen. Und was das Testament betrifft: Ich habe die Wohnung auf den Kopf gestellt, bisher ohne Erfolg. Hat die Polizei denn in der Berliner Wohnung nichts gefunden?«
Anna schüttelt den Kopf.
»Dann ist es im Büro, und Alicia hat es zur Seite geschafft. Sie hasst mich, weil sie meint, dass ich für ihren Liebling nicht gut genug war. Wussten Sie, dass sie mit der Schere auf Martin losgegangen ist, als er ihr von unseren Heiratsplänen erzählte? Die Frau ist nicht zurechnungsfähig. Vielleicht hat sie ihn umgebracht. Wäre ja nicht die Erste, die vor Liebe verrückt geworden ist.«
Was dir nicht passieren könnte, denkt
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