Anna Marx 9: Feuer bitte
Müllsäcke-Slalom auf Gehwegen vollziehend, denkt sie an den Zimmermädchen-Monolog, der in einer Art Englisch gehalten war, das überall auf der Welt gleich klingt: starker Akzent, einfache Wortwahl, falsche Grammatik. Keine Feinheiten, doch durchaus Klarheit in der Aussage.
Dass John Schultz die Liebe zu Männern pflegte, hat Anna überrascht. Marlboro-Männer sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Das findet sie eher erheiternd, während die blonde Liebling-Geschichte sie doch verletzt hat. Es ist nichts als Eitelkeit, sie weiß das. Wie hatte Schultz gesagt? Zu viele Frauen in Lieblings Leben. Martin gehörte zu denen, die nichts auslassen konnten. Immerhin hat er sie für die Insel auserwählt. Bevor er strandete. Nach seinem Tod beschäftigt sie sich so sehr mit seinem Leben, dass es ihr schwer fällt, sich ihn als Leiche vorzustellen. In der Gerichtsmedizin, aufgeschnitten.
Sie werden ihn wieder zunähen, bevor sie ihn ins Höllenfeuer des Krematoriums schicken. Ordnung muss sein, bis zuletzt.
Ein verlogenes Miststück, die Feigen. Sie hätte es Anna doch erzählen können, dass sie mit ihm geschlafen hat. Gottes Geschenk für die Frauen war er im Bett ohnehin nicht. Seine Stärke lag im Vorspiel von Rosen und Champagner. Womit sich kleine Blondinen beeindrucken lassen. Große Rothaarige auch, so viel ist Anna bereit zuzugeben. Sie hat ihn nicht geliebt – oder allenfalls einen Augenblick lang –, und es besteht kein Grund zur Aufregung. Aber dass ein Mann, der sich immerhin in ihrer Wohnung umbringen ließ, sie auch noch belogen und betrogen hat, kränkt sie dann doch.
Gab es in ihrem Leben überhaupt einen Mann, der ausschließlich Anna liebte? Sie denkt nach und stolpert beinahe über einen Kinderwagen, von einer entrüsteten Mutter geschoben, die französisch schimpft. Manchmal ist es schön, nichts zu verstehen. Frustrierend, in einer fremden Stadt hinter einem Mann herzuspionieren, den sie auch nicht versteht.
Nein, es gab keinen Romeo für Anna, ab den Zwanzigern gerechnet. Die sorglose Zeit mit Pille und ohne Aids, die sie als Studium bezeichnete. Das nie einen Abschluss fand, weil sie faul war, damals schon. Also wurde sie Journalistin, in Bonn, und es waren glücklich vergeudete Jahre, zumindest im verklärenden Rückblick. Männer, die gingen und kamen. Kein Schmerz war groß, und sie schien ja noch so viel Zeit zu haben, eine Familie zu gründen. Es fand sich nur leider kein Gründungsvater, und mit den Jahren kamen die Liebhaber als Ehemänner des Weges, als Ringverstecker, und Anna dachte, dass sie den Frauen ja nichts wegnehme, nur ein bisschen Sex, den sie vielleicht ohnehin nicht mehr schätzten. Annas Blick war damals nicht so klar. Heute weiß sie es besser und weicht den beringten Männern aus. Die sich ja ohnehin auf die Zwanzig- bis Dreißigjährigen stürzen, was der Verzichtserklärung einiges an Größe nimmt.
Der Gedanke, dass Liebling ihr letzter Mann gewesen sein könnte, ist ebenso wenig tröstlich wie die Tatsache, dass ein Doppelgänger existiert. Liebling zwei, der Schatten, den sie fangen möchte, fangen muss, wenn sie wieder zu Geld kommen will. David wird auftauchen, weil er an das Erbe will. Und falls Martin, wie Alicia sagt, kein Testament hinterlassen hat, ist er der nächste Verwandte. Das hätte Liebling nicht gefallen, denkt Anna mit gewisser Genugtuung. Wie viele Frauen mögen in Brüssel noch unterwegs sein, die mit ihm geschlafen haben? Die Schwarzhaarige mit dem Foxterrier, die gelangweilt an ihrer Zigarette zieht, während ihr Hund am Hydranten schnüffelt? Sie muss in der Nähe seiner Wohnung sein, sie erkennt das Café wieder, in dem sie einmal waren. Das war an dem Tag, an dem er Anna Schuhe kaufte, so schrecklich teuer, dass sie sie kaum zu tragen wagt. Eine Skulptur, um Füße geformt, und den Karton hat sie ebenfalls aufbewahrt, weil auch er eine Art Kunstwerk ist.
Liebling hat Manschettenknöpfe gesammelt, in allen Farben und Steinen, die er allerdings achtlos in der Wohnung verteilte. Er hing nicht an geldwerten Dingen, er hatte ja genug davon.
Anna bleibt vor einem Schaufenster stehen, in dem Pralinen funkeln. Brüssel ist voll von diesen kleinen Geschäften mit großem Verführungspotenzial. Pierre Marcolini, angeblich der beste Chocolatier der Stadt. Alles hier macht dick, und sie fühlt sich dünn wie nie zuvor. Nicht betreten! Sie wendet sich ab und atmet tief durch. Seit sie nicht mehr raucht, was ihr als kleine Ewigkeit erscheint,
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