Anna Marx 9: Feuer bitte
Wahnsinnszustand frischer Liebe. Danach kommt die anhängliche Freundschaft, manchmal, und zuletzt der Schmerz. Die Erkenntnis, dass es die Illusion ist, in die wir uns verlieben. Anna weiß manches, doch nichts genau. Vielleicht lohnt sich der Hokuspokus auch für Mohnkuchen oder erfolgreiche Mörderjagden. Eine kleine Flamme, die sich einem Glimmstängel nähert …
Der alte Mann, der in einem Sessel sitzt und auf eine Zeitung starrt, die er nicht liest, scheint das alles schon hinter sich zu haben. Versöhnt man sich mit dem Leben, wenn es fast vorbei ist? Sein Lächeln erinnert sie an die alte Frau, die die Straße langsam überquerte und den Rest der rasenden Welt einfach ignorierte. Worauf immer er wartet, er tut es mit Geduld. Ganz still sitzt er da, unbewegt von dem Gehen und Kommen um ihn herum. Sein zerfurchtes Gesicht wirkt heiter und sehr gelassen. Nicht einmal mehr die Zeitung scheint ihn zu interessieren, und Annas neugieriges Beobachten erträgt er mit stoischer Ruhe. Ein Blick, vielleicht das Heben der Mundwinkel, dann versinkt er wieder in sich selbst.
Anna möchte hingehen und ihn fragen, wie er seinen Hund namens Ego bändigt, als eine junge Frau in der Hotelhalle auftaucht, die in der Art von Prostituierten gekleidet ist: lange Lackstiefel, Minirock und viel Modeschmuck. Sie bewegt sich mit der Zuversicht, jung und hübsch zu sein. Sie zögert nur kurz, bevor sie den alten Mann anspricht. Er sieht von seiner Zeitung auf und erhebt sich dann mit einiger Mühe. Papier gleitet zu Boden, und das Mädchen nimmt seinen Arm. Sie gehen gemeinsam zum Lift, der zu den Zimmern führt. Er hat auf sie gewartet, denkt Anna, nicht auf den Tod, und fühlt sich ein wenig betrogen. Als sie mit fünf erfuhr, dass der Weihnachtsmann ein kapitalistischer Mythos ist, brach eine Welt für sie zusammen. Jetzt ist sie einundfünfzig, und die Welt bröckelt nur noch scheibchenweise.
Sie schickt Sibylle eine telefonische Nachricht, dass es ihr gut geht. Sieht immer wieder vom Handy auf, und jetzt tritt einer aus dem Lift, der wie ein Amerikaner aussieht und ihr Mann sein könnte. Anna steht auf. Sie bewegt sich aus der anderen Richtung auf die Rezeption zu, wo sie aufeinander treffen. Sie findet, dass er aussieht wie ein Amerikaner in Brüssel. Seine Augen sind bemerkenswert, der Rest ist eher unauffällig, gepflegt, durchtrainiert. Anna, die ihren zweiten Blick stets den Schuhen schenkt, sieht Cowboystiefel aus Schlangenleder. Eine Mischung aus Krokodil und Klapperschlange, denkt sie, und fühlt die Blicke des Portiers, der sie ja kaum für eine Prostituierte halten kann. Oder doch?
Der Mann legt einen Schlüssel auf den Tresen, und der Portier lächelt routiniert und nimmt ihn an sich. Der Fremde sieht Anna sehr misstrauisch an, sie hat plötzlich Angst, ihn anzusprechen, doch die Situation erfordert Handeln: »Mr. Schultz?«
Er taxiert sie von oben nach unten, und sie fröstelt. Meine Schuhe müssten ihm gefallen, denkt Anna und widersteht dem Impuls wegzulaufen. »Kann ich Sie einen Augenblick sprechen?« Ihr Englisch ist passabel, dennoch stottert sie ein wenig.
»Worum geht es?«
Gleich fragt der Portier, ob sich der Gast belästigt fühle. Schnell sagt sie: »Um Martin Liebling. Er war ein Freund von mir.«
Sein Gesicht ist unbewegt, doch er nimmt ihren Arm und zieht sie beinahe in Richtung des Cafés. Der Griff ist schmerzhaft, und Anna ist zu erschrocken, um Widerstand zu leisten. Am Eingang bleibt er stehen und lässt sie los. Sein Zeigefinger ist auf ihre Nase gerichtet: »Ich mag keine Überfälle, Lady. Wie heißen Sie überhaupt?«
»Anna Marx. Ich wohne in Berlin und …«
»… jetzt sind Sie in Brüssel. Was wollen Sie von mir?«
Sie muss aufhören zu stottern. Es liegt nicht an ihrem rostigen Englisch, sondern an seiner physischen Präsenz. An den Augen natürlich auch, sie sind auf Anna gerichtet, als wolle er sie damit röntgen.
»Ich möchte wissen … warum Martin gestorben ist.« Gott, war das blöd, sie muss sich etwas Besseres einfallen lassen, um diesen Mann zu beeindrucken. »Hat es etwas mit der Diskette zu tun? Und gibt es einen Zusammenhang zwischen Martins Tod und dem von Bruno Laurenz?«
Ein Lächeln enthüllt perfekte Zähne. Gleich frisst er mich, denkt Anna. Sie blockieren den Eingang und treten zur Seite, um einem Schwarm deutschsprachiger Gäste den Weg frei zu machen. Wieder hält er sie fest.
»Und was, Lady, hat das alles mit mir zu tun?«
»Sie waren Martins letzter
Weitere Kostenlose Bücher