Anna Strong Chronicles 04 - Der Kuss der Vampirin
schlank und wie Mitte fünfzig. Das Grau in seinem Haar ist künstlich. Er ist ein Vampir, ein alter Vampir, und außerdem Polizeichef von San Diego.
Zumindest theoretisch.
Vor zwei Monaten ist er wegen einer etwas unkonventionellen verdeckten Ermittlungsaktion in Schwierigkeiten geraten. Unkonventionell deshalb, weil die Ermittlerin Zivilistin war – ich – und weil zwar ein böser Mann gefasst, dabei aber ein Deputy getötet wurde. Williams konnte nichts da-für, aber da er Polizeichef ist, verblasste all das Gute, das er in zehn Jahren im Amt geleistet hatte, vor der schlimmen Tatsache, dass er einen seiner Männer verloren hatte. Er ist offiziell beurlaubt und muss sich und sein Amt vor jedem zivilen und amtlichen Untersuchungsausschuss verteidigen, der je ins Leben gerufen wurde. Er ist noch nicht wieder eingesetzt, und ich treffe ihn ganz allein bei einem Bier im Glory’s.
Zufall? Glaube ich nicht. »Warum bist du hier?«
Er neigt das Glas in meine Richtung. »Das mag ich so an dir, Anna. Du quatschst nicht lange herum. Culebra hat mich angerufen und mir gesagt, wo du hinwillst.«
»Ich bin vorhin erst losgefahren. Ich habe ein Handy. Warum hat er dich angerufen und nicht mich?«
Er starrt viel zu konzentriert auf das Bierglas in seiner Hand. Seine Gedanken sind mir verschlossen. Culebra wirkte vorhin verärgert, aber nicht besorgt, als ich losgefahren bin. Warum sollte er also Williams hierherschicken, außer ....
»Wenn es um meine Rückkehr zu den Wächtern geht – das kannst du vergessen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich damit nichts mehr zu tun haben will. Ich lebe jetzt als Mensch. Und das werde ich tun, solange es irgendwie geht.«
Er neigt den Kopf dicht zu mir heran. »Bis auf unbedeutende Kleinigkeiten wie das Bluttrinken, stimmt’s?«
Am liebsten würde ich ihm dieses sarkastische Grinsen vom Gesicht wischen, stattdessen nehme ich ihm das Bierglas ab und spüle das »Leck mich« mit seinem Bier hinunter. Es ärgert mich, dass Williams, der eine sterbliche Ehefrau hat und einen Beruf unter Sterblichen ausübt, mich andauernd dazu überreden will, meine menschlichen Wurzeln aufzugeben und dem zu folgen, was er stets geheimnisvoll »meine Bestimmung« nennt. Eine Bestimmung, die zu definieren oder erklären er sich weigert. Ich weiß nur, dass ich mich dazu von meiner Familie distanzieren müsste, und dazu bin ich nicht bereit.
Dieses Tänzchen führen wir schon auf, seit wir uns kennengelernt haben.
Offenbar hat jemand Bedeutendes die Bar betreten, denn ein aufgeregtes Raunen geht wie eine Welle durch die Menge. Ich blicke gerade rechtzeitig auf, um Glorias großen Auftritt nicht zu verpassen. Sie sieht umwerfend aus in einem Kleid aus Goldlamé, das Haar hoch auf dem Kopf aufgetürmt, und sämtliche Spuren ihres nachmittäglichen Heulanfalls sind aus dem strahlenden Gesicht getilgt worden.
Sie schwebt durch die Menge und beglückt einen jeden mit ihrem Lächeln. Als sie durch die Tür zum Büro verschwindet, rutsche ich ans Ende der Bank, um ihr zu folgen.
Williams hält mich mit einer Hand auf meinem Arm zurück. »Warte. Ich muss dir etwas sagen.«
Ich schüttele die Hand ab. Er lässt aber nicht los, sondern packt mich noch fester. Wütend fahre ich zu ihm herum. »Nimm die Finger von mir.«
Er lässt meinen Arm los und hebt beide Hände, als wollte er sich ergeben. »Es tut mir leid. Aber du musst das erfahren. Diese Werwölfin, Sandra, die heute Abend bei Culebra war. Sie sucht nach dir. Culebra sagt, sie wolle sich morgen mit dir in Verbindung setzen.«
Ich erinnere mich an ihre Macht und Schönheit und ihre völlige Kontrolle über ihr Rudel. Die Vorstellung, sie wiederzusehen, finde ich aufregend, bis die Vernunft sich einschaltet. »Weißt du, warum?«
»Das ist kompliziert«, entgegnet er.
»Was ist schon einfach? Wenn du es weißt, dann sag es mir. Warum will sie mich sehen?«
Seine Augen blitzen in der schummrigen Beleuchtung. »Sie behauptet, sie sei Averys Ehefrau. Du sollst wissen, dass sie hierherkommt, um sich zu nehmen, was ihr gehört.«
Kapitel 9
Ich weiß nicht, was für eine Reaktion Williams von mir erwartet. Sein Gesichtsausdruck ist geradezu komisch gebannt. Er sieht aus, als fürchte er, ich könnte etwas umwerfen oder jemanden schlagen.
Aber ich empfinde nur Überraschung und Erleichterung. Den letzten Rest von Averys Einfluss in meinem Leben loszuwerden, davon habe ich geträumt, dafür habe ich gekämpft, seit dieser Dreckskerl sich vor einem
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