Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
als hätte sie noch nie eine gesehen.
»Mein Mann«, fuhr ich sie an. Sie hob den Blick zu der Stelle, wo meine Eingriffsnarbe hätte sein müssen, aber ich hatte mir sorgfältig die Haare nach vorn gekämmt und mir eine Wollmütze über die Ohren gezogen, so dass mein gesamter Hals verdeckt war. Ich verlagerte mein Gewicht, dann fiel mir auf, dass ich zu sehr herumzappelte.
Ich war in einem IGA-Supermarkt in der Dorchester Street, drei Tage nach der Razzia bei Rawls. Auf dem Band zwischen uns türmte sich die Quelle all der Anspannung: eine Dose Instant-Kakao, zwei Packungen Nudeln, ein Labello, ein Deo und eine Tüte Chips. Die Luft roch abgestanden und verbraucht und nach dem heftigen Wind auf der Straße kam es mir hier im Laden so heiß und trocken vor wie in der Wüste.
Warum benutzte ich seine Kreditkarte? Ich weiß es bis heute nicht. Ich weiß nicht, ob ich leichtsinnig wurde oder ob ich nur einen Moment lang so tun wollte, als ob: so tun, als ob ich keine Ausreißerin wäre, so tun, als ob ich nicht mit sechs anderen Mädchen in einem unfertigen Keller hauste, so tun, als ob ich ein Zuhause hätte, einen Platz, an den ich gehörte, und einen Partner. Genau wie sie, genau wie es bei allen sein sollte.
Vielleicht hatte ich die Freiheit schon ein bisschen satt.
»Ohne Vorlage des Ausweises dürfen wir keine Kreditkarten annehmen«, sagte sie nach einer langen Pause. Ich werde sie nie vergessen – dieser schwarze Pony, die Augen so wenig neugierig, so ausdruckslos wie Murmeln. »Wenn Sie möchten, rufe ich den Geschäftsführer.« Sie sagte es, als täte sie mir damit einen Gefallen.
In meinem Kopf schrillten die Alarmglocken. Der Geschäftsführer bedeutete Autorität, bedeutete Ärger. »Wissen Sie was? Vergessen Sie’s.«
Aber sie hatte sich bereits umgedreht. »Tony! Hey, Tony! Weiß irgendjemand, wo Tony ist?« Dann drehte sie sich entnervt wieder zu mir um. »Einen Augenblick, okay?«
Es war eine Spontanentscheidung in dem Moment, als sie die Kasse verließ und Tony suchen ging – eine Schonfrist von dreißig oder vierzig Sekunden. Ohne nachzudenken stopfte ich den Labello in die Tasche, schob die Chips und die Nudeln unter meine Jacke und rannte los. Ich war nur noch ein paar Meter vom Eingang entfernt, als ich sie brüllen hörte. So nah an der Straße, am Schwall kalter Luft und den zusammengedrängten, ununterscheidbaren Menschen. Nur noch einen Meter, einen halben …
Da tauchte ein Wachmann vor mir auf. Er packte mich an den Schultern. Er stank nach Bier.
Er sagte: »Wohin denn so eilig, kleine Lady?«
Es dauerte keine zwei Tage, bis ich in einem Bus nach Portland saß. Diesmal war meine Schwester Carol bei mir – und zur Sicherheit ein Mitglied der Jugendkontrollbehörde, eine dürre Neunzehnjährige mit pickeligem Gesicht, Haaren wie ein Büschel Seetang und einem Ehering.
Ich wusste, dass Carol nicht lange den Mund würde halten können – das hatte sie noch nie gekonnt – und sobald wir den Busbahnhof verlassen hatten, fiel sie über mich her.
»Das war dermaßen egoistisch von dir«, sagte sie. Carol war damals erst sechzehn – wir waren fast genau ein Jahr auseinander –, aber schon da hätte sie für vierzig durchgehen können. Sie trug eine Handtasche, eine richtige Damenhandtasche, und rote Lederhandschuhe, eckige schwarze Stiefel und Jeans, die sie sogar bügelte. Ihr Gesicht war schmaler als meins und ihre Nase zeigte nach oben, als wäre sie mit ihren übrigen Zügen nicht einverstanden und versuchte sich davon zu distanzieren. »Weißt du, was sich Mom und Dad für Sorgen gemacht haben? Und wie sehr sie sich schämen?«
Meine Mutter war eine der ersten Freiwilligen gewesen, die sich hatten heilen lassen. Sie ließ den Eingriff sogar schon vornehmen, bevor er landesweit angeordnet wurde. Nach drei Jahrzehnten Ehe mit meinem Vater – der in nüchternem Zustand bezaubernd und laut war und in betrunkenem gemein und laut, dazu ein notorischer Fremdgeher, wenn er eine Frau zu fassen bekam, die bereit war, mit ihm ins Bett zu steigen – hatte sie das Heilmittel willkommen geheißen wie ein Bettler Essen, Wasser und das Versprechen auf Wärme. Sie hatte auch Dad dazu gedrängt und ich musste zugeben, dass es ihm gutgetan hatte. Er war jetzt ruhiger, weniger aggressiv. Und er trank kaum noch. Er tat überhaupt kaum noch was, da er fast sein ganzes Leben lang Fluglotse gewesen war – außer vor dem Fernseher zu sitzen oder im Keller an seiner Werkbank
Weitere Kostenlose Bücher