Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
hat mich wohl vergessen.
Meine Blutergüsse sind zu Sternenkränzen geworden, großen Explosionen aus unglaublichen Farben, gelb und grün und lila. Ich bin nicht länger besorgt oder wütend. All meine Hoffnung, die Energie, die ich aus dem Gedanken an Flucht gesogen habe, verlässt mich auf einmal. Ich verliere sogar den Drang zu laufen.
Ich bin voller schwarzer Gedanken: Thomas hat nie versucht mir zu helfen. Die geplante Flucht, das Flechten des Seils, die Kundschafter – all das war nur ein Traum, eine Fantasie, die mich in all diesen Jahren am Leben erhalten hat.
Ich bleibe im Bett, mache mir nicht die Mühe aufzustehen, außer wenn ich mich erleichtern muss, als schließlich das Tablett mit dem Abendessen durch einen schmalen Spalt in der Tür geschoben wird.
Und dann erstarre ich: Unter der Plastikschüssel mit zerkochten Nudeln liegt ein kleines Stück Papier. Noch eine Nachricht.
Thomas hat in Großbuchstaben geschrieben: HEUTE NACHT . SEI BEREIT .
Mein Magen rebelliert und ich habe Angst, dass ich mich übergeben muss. Plötzlich kommt mir der Gedanke, diese Mauern, diesen Raum zu verlassen, unmöglich vor. Was weiß ich schon von der Welt da draußen? Was weiß ich von der Wildnis und der Widerstandsbewegung, die dort überlebt? Als ich festgenommen wurde, hatte ich mich der Bewegung gerade erst angeschlossen. Ein Treffen hier, ein weitergegebenes Dokument da …
Ich habe elf Jahre von Flucht geträumt und jetzt, da der Zeitpunkt endlich gekommen ist, weiß ich, dass ich nicht darauf vorbereitet bin.
damals
Ich wusste zuerst nicht, dass das Heilmittel nicht gewirkt hatte.
In meinem alten Zimmer im Haus meiner Eltern untergebracht, ohne meine Freundinnen treffen zu dürfen, und mit der Auflage, das Haus nicht ohne Erlaubnis und Carols Begleitung zu verlassen, war ich so gut wie tot. Ich schlurfte vom Bett zur Dusche, sah die immer gleichen Nachrichten im Fernsehen, hörte die immer gleiche Musik im Radio. So war es also, geheilt zu sein. Als würde man in einem Aquarium immer nur im Kreis schwimmen.
Ich tat, was man mir sagte, half meinen Eltern im Haushalt, bewarb mich erneut fürs College, da meine Zulassung wegen meiner Flucht nach Boston für nichtig erklärt worden war. Ich verfasste Entschuldigungsschreiben an zahllose Ausschüsse, an Beamte, an unsere Nachbarn, an gesichtslose Bürokraten mit langen, bedeutungslosen Titeln.
Langsam gewann ich gewisse Freiheiten zurück. Ich durfte alleine einkaufen gehen. Ich durfte auch an den Strand gehen. Ich durfte alte Freundinnen treffen, obwohl es den meisten verboten war, mich zu sehen. Und während dieser ganzen Zeit schlug mein Herz wie ein dumpfer Hammer in meiner Brust.
Es dauerte volle sechs Monate, bis der Evaluierungsausschuss von Portland, wie er damals hieß, beschloss, ich sei so weit, dass mir ein Partner zugeteilt werden könne. Das Gesetz zur Stabilität der Ehe war gerade in Kraft getreten und das System steckte noch in den Kinderschuhen. Ich weiß noch, dass meine Mutter und ich zum ZOFE gehen mussten, dem Zentrum für Organisation, Forschung und Erziehung, um meine Ergebnisse abzuholen. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr nach Portland verspürte ich so etwas wie Aufregung. Allerdings war es eine negative Aufregung, die Art, die einem den Magen umdreht und von der die eigene Spucke ein bisschen wie Erbrochenes schmeckt.
Angst.
Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich den dünnen Ordner mit meinen Ergebnissen entgegennahm, aber ich weiß, dass ich es erst draußen im Auto über mich brachte, ihn zu öffnen. Carol war auch dabei, auf der Rückbank. »Wen hast du bekommen?«, fragte sie dauernd. Aber ich konnte die Namen nicht lesen, brachte die Wörter nicht dazu, ruhig auf der Seite stehen zu bleiben. Die Buchstaben trieben umher, schwebten über die Ränder und jedes Bild sah aus wie eine Ansammlung abstrakter Formen. Einen Moment lang dachte ich, ich würde den Verstand verlieren.
Bis ich zu meinem achten empfohlenen Partner kam: Conrad Haloway. Da wusste ich, dass ich den Verstand verlor.
Das Bild war das Gleiche wie in seinem Ausweis – den ich immer noch hatte, ganz unten in der Schublade mit meiner Unterwäsche, unter einem Socken versteckt. Neben dem Bild standen die grundlegenden Fakten aus seinem Leben: wo er geboren war, welche Schule er besucht hatte, seine diversen Noten, sein beruflicher Werdegang, Einzelheiten über seine Familie und eine Beurteilung hinsichtlich seiner geistigen Verfassung und
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