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Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lauren Oliver
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seiner sozialen Stabilität.
    Plötzlich verspürte ich eine Art Woge in mir. Als wäre mein Inneres im letzten halben Jahr abgeschaltet worden, staubig und nutzlos, und erwachte jetzt auf einmal wieder zum Leben: Mein Herz klopfte mir bis in den Hals, die Brust wurde mir eng, meine Lunge fühlte sich an wie zusammengepresst.
    »Den hier«, sagte ich und versuchte meine Stimme unbewegt zu halten. Ich zeigte auf ihn, legte meinen Finger direkt auf seine Stirn zwischen die Augen. Es war ein Schwarzweißfoto, aber ich erinnerte mich genau an sie: hellbraun wie Haselnussschalen.
    Meine Mutter beugte sich zu mir, um einen Blick darauf zu werfen. »Ist der nicht ein bisschen alt?«
    »Er ist gerade erst nach Portland gezogen«, sagte ich. »Er war als Ingenieur an den Mauern eingesetzt. Siehst du? Hier steht es.«
    Meine Mutter lächelte gezwungen. »Na ja, es ist schließlich deine Entscheidung.« Sie streckte die Hand aus und tätschelte mir unbeholfen das Knie. Schon vor ihrem Eingriff war sie nie besonders zärtlich gewesen, in meiner Familie hatte man sich nie viel berührt – außer wenn mein Vater meiner Mutter eine runterhaute, wenn er betrunken war. »Ich bin stolz auf dich.«
    Carol beugte sich vor. »Er sieht gar nicht aus wie ein Ingenieur«, sagte sie nur.
    Ich sah aus dem Fenster. Auf der Fahrt nach Hause wiederholte ich seinen Namen innerlich wie einem eigenen Rhythmus folgend: Conrad, Conrad, Conrad. Meine geheime Musik. Mein Mann. Ich spürte, wie sich etwas in meiner Brust löste. Sein Name wärmte mich. Er breitete sich in meinem Kopf, in meinem ganzen Körper aus, bis ich die Silben in meinen Fingerspitzen spürte und bis hinunter in meine Zehen. Conrad.
    Da wusste ich ohne einen Anflug von Zweifel, dass das Heilmittel überhaupt nicht gewirkt hatte.

jetzt
    Das Licht geht aus und die nächtlichen Geräusche im Block setzen ein: das Gemurmel, Gestöhne und Geschrei.
    Ich erinnere mich an andere Geräusche – die Geräusche von draußen: kehlig und klagend quakende Frösche; Grillen, die zur Begleitung zirpen. Lena als kleines Mädchen, die vorsichtig ein Glühwürmchen in ihren gewölbten Händen hält und vor Lachen kreischt.
    Werde ich die Welt da draußen überhaupt wiedererkennen? Würde ich Lena erkennen, wenn ich sie sähe?
    Thomas hat gesagt, er würde mir ein Zeichen geben. Aber mindestens eine Stunde vergeht, ohne dass etwas passiert – kein Zeichen, keine weitere Nachricht. Mein Mund ist staubtrocken.
    Ich bin nicht bereit. Noch nicht. Nicht heute Nacht. Mein Herzschlag geht heftig und unregelmäßig. Ich schwitze und zittere.
    Ich kann mich kaum auf den Beinen halten.
    Wie soll ich da erst rennen?
    Ein Ruck durchfährt mich, als ohne Vorwarnung die Alarmanlage losgeht: ein stetes, hohes Heulen von unten, durch Lagen aus Stein und Zement gedämpft. Türen knallen, Stimmen rufen. Thomas muss in einem tiefer gelegenen Block Alarm ausgelöst haben. Die Wachen werden dorthin eilen, mit einem Fluchtversuch oder einem Selbstmord rechnen.
    Das ist mein Signal.
    Ich stehe auf und schiebe die Pritsche zur Seite, so dass das Loch in der Wand zum Vorschein kommt: ein schmaler Spalt, aber breit genug für mich. Mein selbstgemachtes Seil liegt zusammengerollt auf dem Boden bereit und ich fädele ein Ende durch den Metallring an der Tür und verknote es so fest ich kann.
    Ich denke nicht mehr nach. Ich habe auch keine Angst mehr.
    Ich werfe das lose Ende des Seils durch das Loch hinaus, höre, wie es im Wind peitscht. Zum ersten Mal seit meiner Gefangennahme danke ich Gott dafür, dass die Grüfte fensterlos sind, zumindest auf dieser Seite.
    Ich schiebe mich mit dem Kopf zuerst durch das Loch, winde mich, als meine Schultern auf Widerstand stoßen. Weicher, nasser Stein bröselt auf meinen Hals. In meiner Nase habe ich den Geruch von Verdorbenem.
    Adieu, adieu.
    Die Sirene heult immer noch wie zur Antwort.
    Dann bin ich mit den Schultern durch und hänge kopfüber in einer schwindelerregenden Höhe. Es sind bestimmt fünfzehn Meter bis zum schwarzen, teilweise gefrorenen Fluss, der dunkel daliegt und das Mondlicht reflektiert. Und das Seil führt wie ein gesponnener Faden aus weißem Wasser senkrecht in die Freiheit hinab.
    Ich greife danach und schiebe meinen Körper und meine Beine durch das zackige Loch im Fels.
    Und dann falle ich.
    Meine Beine rutschen aus dem Loch und ich schwinge in einem wilden Halbkreis einmal um mich selbst, um mich tretend, und schreie auf. Ruckartig stoppt mein Fall und

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