Schattenland - Begegnung mit Victor (German Edition)
Wege
Dicke Tränen liefen mir über die Wangen, als ich mein Spiegelbild betrachtete. Nichts als ein kleines Häufchen Elend sah ich vor mir im Spiegel, das verzweifelt nach Hilfe schrie, aber im gleichen Moment schon wusste, dass ihr diesmal niemand helfen konnte.
Warum nur konnte ich ihn nicht so lieben wie er mich? Ich musste doch so furchtbar glücklich sein, diesen tollen Mann an meiner Seite zu haben, der mir jeden Wunsch von den Augen ablas, mich auf Händen durch ein Meer aus rosaroten Wolken trug. War ich undankbar? Wusste ich ihn nur nicht genug zu schätzen? Nein, darum ging es nicht! Mein Problem war fundamentaler. Es war geradezu essentiell. Ich verspürte kein sexuelles Verlangen nach ihm! Nein, noch schlimmer. Ich hatte noch nie Verlangen nach ihm verspürt.
Mir blieb nach acht Jahren harmonischer Beziehung gar nichts anderes übrig, als aus meiner kleinbürgerlichen Beziehungsidylle auszubrechen, obwohl ein detaillierter Zukunftsplan schon fix und fertig auf dem Tisch lag. Wir, das waren Martin und ich, hatten beide nicht damit gerechnet, dass ich uns einen saftigen Strich durch die Beziehungsrechnung machen würde. Andererseits zählte ich mich zu den wenigen „Heldinnen“, die den Mut besaßen, diesen Weg zu gehen. Schließlich hatte ich uns beide von diesem schrecklichen Sexfrust erlöst.
Und nun zu mir. Im Prinzip war ich ein gutbürgerliches, leicht verrücktes Frauenzimmer, das bisher nur sexuell leicht orientierungslos durch die Welt spazierte. Das einzige, das mir auf diesem Spaziergang immer schon bekannt vorkam, war meine Vorliebe für dieses besondere Spiel von Macht und Unterwerfung. Was genau das zu bedeuten hatte, würde mir noch sehr bewusst werden. Mehr als mir vielleicht lieb sein konnte.
Wo bitte fand ich jetzt bloß meinen Mr. Big? Die Lichtgestalt, die mich auf allen Ebenen glücklich machen würde. Geist, Körper und Seele gleichermaßen berührte.
Ich hatte schon so viel Gutes, aber auch Mieses und Fieses von meinen Freundinnen übers Internetdating gehört. Doch die Chancen, dort fündig zu werden, standen statistisch gesehen gar nicht so schlecht.
Also was soll´s. Ganze zwei Minuten hatte es gedauert, um auf einer dieser unzähligen Datingplattformen ein Profil anzulegen. „Willkommen Fio. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg bei der Partnersuche.“
Jetzt musste ich nur noch den richtigen Frosch finden, küssen, und schon hätte ich meinen Mr. Big. Als selbstbewusste Neuzeitrebellin mit einer gesunden Portion Narzissmus im Blut suchte ich natürlich einen Mann mit der Optik von George Clooney, der Kohle von Bill Gates, dem Humor von Mittermeier und dem IQ von Einstein.
Wow, hier schien es wirklich Massen an Männern zu geben. Und außerdem schlug ich so gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich musste weder auf meine daily soap im Fernsehen verzichten, noch diese anstrengende Prozedur auf mich nehmen, den ganzen Abend über in einer Bar Ausschau zu halten nach potentiellen Kandidaten, viel zu anstrengend. Vom Sofa aus konnte ich ganz entspannt meinen Prinzen klicken; und klickte ich mal daneben, würde ich schlimmstenfalls auf dem Gebrauchtwagenmarkt landen.
Unter dem Punkt Partnersuche gab ich alle für mich relevanten Kriterien ein, die mein Mr. Big zu erfüllen hatte. Groß musste er sein, dunkel und natürlich leicht sonnengebräunt, aber bitte kein Solariumfetischist. Und natürlich ledig, denn wer wollte schon einen Mann mit Vorgeschichte. Mir wurden genau 293 Treffer angezeigt. Ich überflog die angezeigten Profile, hatte aber an jedem einzelnen etwas auszusetzen. Bei dem einen mochte ich das breite Grinsen nicht, der nächste sah aus, als würde er seit seiner Kindheit Fußball spielen und wieder ein anderer hatte mir schon viel zu wenig Haare. So ging das eine ganze Weile. Ich stellte fest, wie schnell ich anfing, furchtbar oberflächlich über Menschen zu urteilen, obwohl ich bisher nur ein Foto von ihnen gesehen hatte. Das gefiel mir gar nicht. Im Prinzip war ich gerade dabei, für mich zu entscheiden, dass doch nur der konventionelle Weg des Kennenlernens in Frage kam, als mir plötzlich ein Profil förmlich ins Auge sprang.
Stopp! Ich spürte eine magische Anziehung, die genau dieses Profil auf mich ausübte, auch wenn ich sie mir nicht erklären konnte. Aber musste wirklich alles erklärbar sein? Das Bild verschwommen, die Fragen mäßig eifrig beantwortet. Dennoch, das wenige, das da stand,
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