Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
ich hänge still, jetzt richtig herum, das Seil um mein Handgelenk geschlungen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals. Die Sirene heult immer noch: schrill, hysterisch.
Luft, Luft, nichts als Luft. Ich bin erstarrt, unfähig hinauf- oder hinunterzuklettern. Mir fällt plötzlich der Frühjahrsputz in dem Jahr, bevor ich festgenommen wurde, ein und das riesige Spinnennetz, das ich dabei hinter dem Standspiegel im Schlafzimmer entdeckte. Dutzende Insekten hingen unbeweglich darin, in weißen Faden gewickelt, und eins war gerade erst gefangen worden – es kämpfte immer noch schwach darum, sich zu befreien.
Die Sirene verstummt und die folgende Stille ist so laut wie eine Ohrfeige. Ich muss los. Jetzt kann ich das Rauschen des Flusses hören und das Flüstern des Windes in den Blättern. Langsam klettere ich abwärts, schlinge meine Beine um das schaukelnde Seil. Ich verspüre einen Druck auf der Blase und meine Handflächen brennen. Ich bin zu verängstigt, um zu frieren.
Bitte mach, dass das Seil hält.
Zehn Meter über dem Fluss löst sich mein Griff und ich falle ein ganzes Stück, bevor ich mich wieder festklammern kann. Die Heftigkeit meines Halts lässt mich erneut aufschreien und ich beiße mir auf die Zunge.
Aber mir ist nichts passiert und das Seil hält.
Zentimeter um Zentimeter. Es scheint ewig zu dauern. Hand um Hand. Ich merke noch nicht mal, dass meine Handflächen bluten, bis ich rote Flecken auf der Bettwäsche sehe. Aber ich verspüre keinen Schmerz. Ich bin jetzt jenseits des Schmerzes, vor Angst und Erschöpfung taub. Ich bin sogar noch schwächer als befürchtet.
Zentimeter um Zentimeter.
Und dann, ganz plötzlich, bin ich am Ende des Seils angelangt und zwei Meter unter mir ist der Presumpscot River, eine dunkle Oberfläche aus vermoderten Baumstämmen, schwarzen Felsen und Eis. Ich habe keine andere Wahl, als mich fallen zu lassen und um eine gute Landung zu beten, zu versuchen das Wasser zu verfehlen und in den Schneewehen aufzukommen, die sich wie weiße Kissen am Ufer türmen.
Ich lasse los.
damals
Ich hielt meinen Part der Abmachung ein. Ich machte meiner Familie keine Schwierigkeiten. In den Monaten vor der Hochzeit sagte ich Ja, wenn es von mir erwartet wurde, und tat, was man mir sagte.
Aber die ganze Zeit über wuchs die Liebe in mir wie ein süßes Geheimnis.
Genau so war es auch später, als ich erst mit Rachel und später mit Lena schwanger war. Noch bevor die Ärzte es bestätigten, wusste ich es jedes Mal. Es gab die normalen Veränderungen: die geschwollenen, empfindlichen Brüste; einen geschärften Geruchssinn; schwere Beine. Aber es war mehr als das. Ich konnte es jedes Mal spüren – das fremde Wachstum, das Ausdehnen von etwas Schönem und Anderem und gleichzeitig ganz und gar Meinigem. Ein neuer, ganz privater Stern, der in meinem Bauch heranwuchs.
Falls Conrad sich an das dünne, verängstigte Mädchen erinnerte, das er an einer eisigen Straßenecke in Boston ganz kurz im Arm gehalten hatte, zeigte er keinerlei Anzeichen dafür, als wir uns trafen. Er war von Anfang an höflich, freundlich, respektvoll. Er hörte mir zu und fragte mich, was ich dachte, was ich mochte und was nicht. Er erzählte mir einmal zu Anfang, dass er gerne Ingenieur war, weil er Spaß an der Mechanik hatte, die Dinge zum Laufen brachte – Strukturen, Maschinen, alles Mögliche. Ich weiß, er wünschte sich oft, dass Menschen leichter entschlüsselt werden könnten.
Dafür war natürlich das Heilmittel gedacht: um Menschen auf Papierwesen zu reduzieren, auf Biomechanik und Punktzahlen.
Ein Jahr vor seinem Tod bekam Conrad die Diagnose: ein Tumor von der Größe eines Kinderdaumens war in seinem Gehirn herangewachsen. Es kam plötzlich und völlig unerwartet.
Ich saß neben seinem Krankenhausbett, als er plötzlich verwirrt aus einem Traum erwachte und sich aufsetzte. Als ich versuchte, ihn zurück in die Kissen zu drücken, sah er mich mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was ist aus deiner Lederjacke geworden?«, fragte er.
»Psst«, sagte ich und versuchte ihn zu beruhigen. »Es gibt keine Lederjacke.«
»Du hast sie getragen, als ich dich das erste Mal gesehen habe«, sagte er und runzelte leicht die Stirn. Dann sackte er plötzlich aufs Kissen zurück, als hätte ihn die Anstrengung des Sprechens erschöpft. Und ich saß neben ihm, während er schlief, hielt seine Hand und sah zu, wie die Sonne am Himmel vor dem Fenster ihre Bahn zog und sich das Lichtmuster auf seiner Decke
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