Annas Erbe
schlafen!«
»Wenn du willst, verloben wir uns noch heute Abend, Mutti, damit du zufrieden bist.«
»War das jetzt ein Antrag, Karl?«, fragte Eva. Ihre braunen Augen leuchteten, und ihre vollen Lippen lächelten fast unbeschwert glücklich. Thann schien es, als habe er Eva noch nie so schön gesehen.
»Ihr könnt nicht miteinander schlafen. Das ist Inzest. Ihr beide seid Geschwister.«
71.
Karl Thann erstarrte. Inzest. Ihr seid Geschwister. Worte, die wie Beilhiebe trafen.
Gudrun Thann begann leise zu schluchzen. Thann versuchte, sie zu trösten, obwohl er selbst nichts verstand.
Dann begann Gudrun Thann zu erzählen.
Hans-Werner Kurz und die Thanns waren gute Freunde gewesen. Als Kurz sich von Anna trennte, zog er zunächst als Untermieter bei ihnen ein. Da ihr Mann oft auswärts zu tun hatte, lud Gudrun abends gern Kurz ein, um nicht allein vor dem Fernsehapparat zu sitzen. Und er nutzte die Gelegenheit, um sein Herz auszuschütten. Sie trösteten sich gegenseitig. Dabei erfuhr Kurz, wie sehr sich Gudrun Thann Kinder wünschte. Doch nach drei Fehlgeburten hatte sie die Hoffnung aufgegeben.
Nach einem Jahr hatte Kurz den letzten Versuch aufgegeben, sich mit Anna zu versöhnen. Er nahm eine eigene Wohnung und lernte seine zweite Frau kennen. Bei den Thanns ließ er sich nur noch selten blicken. Dann starb Anna. Kurz bat das kinderlose Paar, den Jüngsten aufzunehmen. Mit Freude sagten die beiden zu. Es war Karl.
»Du warst damals gerade elf Monate alt. Ein süßes Kerlchen. Wir waren so glücklich. Wir hatten einen Sohn.«
Gudrun Thann weinte. Gleichzeitig lächelte sie in Erinnerung an ihr damaliges Glück. Thann schoss ein Satz von Marlies Kurz durch den Kopf: Den Kleinen gaben wir zu Freunden meines Mannes.
Ab und zu hörten sie noch voneinander. So wusste Gudrun Thann, dass Kurz Karriere bei der Polizei gemacht hatte und dass Eva inzwischen über ihre Herkunft aufgeklärt worden war. Gudrun jedoch wagte es nicht, Karl aufzuklären. Sie fürchtete, ihn von sich zu entfremden.
Als ihr Mann starb, beschloss sie, Karl niemals die Wahrheit zu sagen. Sie hatte Angst, er würde sich abwenden und sie den letzten Rest von Familie verlieren.
»Dann kam der Anruf von Hans-Werner. Vorgestern war das. Ihr wart bei ihm gewesen, und er glaubte, dass ihr ... Als ich euch heute sah, war mir alles klar. Es musste raus. Die Wahrheit. Ihr seid Geschwister. Und ich bin nicht deine leibliche Mutter. Ich habe dich all die Jahre belogen. Karl, verzeih mir.« Sie sank in sich zusammen, von Weinkrämpfen geschüttelt.
Thann fühlte sich wie in einer Achterbahn, die durch eine Welt der Erinnerungen raste. Karl Korfmacher – Karl Thann. Anna, seine wirkliche Mutter, die ihn nach Karl Marx benannt hatte. Wenn Sie den mal treffen, sagen Sie ihm einen Gruß von Friedrich Engels. Er selbst war das kleine Baby auf einem der Fotos in Udos Album. Es war auch sein Familienalbum. Und Bollmann hatte auch seine Mutter ermordet.
Nicht der verstorbene Thann war sein wirklicher Vater, sondern wahrscheinlich der biertrinkende Einfaltspinsel Heinz Pfaff oder der aufgeblasene Künstler Leo Frentzel. Udo war sein Bruder gewesen. Die Ratte. Thann überlegte, ob er die gleichen Charaktereigenschaften geerbt hatte wie dieser Erpresser und Pornograf. Jetzt verstand er, was Eva bewegt hatte, als sie begann, die Geschichte ihrer Mutter zu erforschen.
Thann zitterte und fror. Bevor sie schlafen gingen, versprach er Gudrun Thann, sie nie im Stich zu lassen. Sie sollte weiterhin die Mutter für ihn sein. Er wünschte Eva gute Nacht, ohne Kuss, ohne Zärtlichkeit. Er hatte eine Schwester gewonnen und eine Geliebte verloren. Er wusste nicht, wie er damit fertigwerden sollte. Was er an diesem Abend erfahren hatte, drohte ihn weit mehr aus der Bahn zu werfen als alles, was er in den letzten eineinhalb Wochen erlebt hatte. Eine Nummer zu groß.
Thann war müde, doch er konnte auf diesem Sofa nicht einschlafen. Karl Korfmacher, Annas Sohn. Evas Bruder. Ihr könnt nicht miteinander schlafen. Das ist Inzest. Ihr seid Geschwister. Er spürte plötzlich eine Geilheit in sich, die er nie mehr würde befriedigen können.
Er stand auf und suchte nach Alkohol, um sich zu betäuben.
Er fand Weinbrand, Gin und Wodka, Liköre und Fruchtsäfte. Er stellte die Flaschen auf den Wohnzimmertisch und begann Cocktails herzustellen, immer neue Mischungen, die er auf einen Zug wegtrank. Er fand heraus, dass sie umso besser schmeckten, je hochprozentiger
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