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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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fest. In den brütend heißen, überbuchten Abteilen nahm ihn jedenfalls niemand stellvertretend ins Visier. Die Hindus fuhren einfach genauso ihrer Wege wie er. Sie husteten und aßen ihr Mittagessen genau wie er und sahen aus dem Fenster auf Reklametafeln, die mit Hilfe von Bollywood-Stars Zement und Coca-Cola verhökerten. Sie beugten sich auch schützend über kostbare Dokumente in kostbaren Plastiktüten, auf denen genau wie auf seiner stand: Have a break, have a Kit Kat. Es war alles wie immer, also durchaus hoffnungsvoll.
    Hoffnungsvoll waren auch Mumbais reiche Leute in den Monaten nach dem Terroranschlag. Viele hatten sich zum ersten Mal im Leben entschlossen, sich politisch zu engagieren, um staatliche Reformen mit voranzubringen. Wohlhabende Inder versuchten normalerweise, alles, was staatlicherseits nicht funktionierte, selbst in die Hand zu nehmen. Sie stellten eigene Security-Leute ein und bezahlten für gefiltertes Wasser und Privatschulen. Diese Praxis hatte sich mit den Jahren zu einem Prinzip ausgewachsen: Die beste Regierung ist die, die einem aus dem Weg bleibt.
    Die Anschläge auf das Taj und das Oberoi, bei denen auch Wirtschaftsbosse und Prominente ums Leben gekommen waren, hatten das Prinzip drastisch konterkariert. Die Reichen hatten erkennen müssen, dass ihre Sicherheit privat gar nicht zu garantieren war. Auch sie waren angewiesen auf öffentliche Sicherheit, auf genau das System also, das den Armen so schlechte Dienste leistete.
    Zehn junge Männer hatten drei Tage lang eine der größten Städte der Welt mit Terror überzogen – das war eine Tatsache, die einerseits sicher aus der Raffinesse eines Angriffs an mehreren Fronten gleichzeitig resultierte, aber andererseits auch daraus, dass sich die staatlichen Behörden nicht wie Hüter der öffentlichen Sicherheit aufgeführt hatten, sondern wie private Marktbudenbetreiber. Die schnellen Einsatzeinheiten der Mumbaier Polizei hatten nicht genug Waffen. Viele Polizisten auf dem Bahnhof hatten zwar Waffen, aber keine Ahnung, wie man damit umgeht, und rannten weg, während zwei der Terroristen über fünfzig Passagiere erschossen. Andere Polizisten hatten den Auftrag, Menschen aus einer belagerten Entbindungsklinik zu retten, rührten sich aber nicht aus dem nur vier Blocks entfernten Präsidium. Rettungssanitäter behandelten Verwundete nicht. Militärspezialkräfte brauchten acht Stunden, um ins Herz der Finanzmetropole zu kommen – Grund waren unter anderem ein ungünstig geparkter Düsenjet, eine Tankpause und eine endlose Busfahrt vom Flughafen Mumbai. Als sie endlich in der Altstadt eintrafen, war das Morden praktisch beendet.
    Ende April standen Parlamentswahlen an, und Leute aus der Mittel- und der Oberschicht, vor allem junge Leute, beantragten Wahlunterlagen in Rekordzahl. Es gab diesmal wohlhabende und gebildete Kandidaten, die mit Forderungen nach einer radikalen Wende für sich warben: Die Regierung muss zur Rechenschaft gezogen werden können, es muss Transparenz herrschen, Bürokratie muss durch e-Governance abgebaut werden. Indien als unabhängiger Staat war einst von hochgeborenen und hochgebildeten Männern gegründet worden, jetzt im einundzwanzigsten Jahrhundert stellte sich kaum noch jemand aus solchen Kreisen zur Wahl oder ging wählen. Wer heute Geld hatte, konnte seine gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Interessen außerhalb demokratischer Regelwerke durchsetzen. Heutzutage waren überall in Indien die Armen die Einzigen, die Wahlen noch ernst nahmen. Ihre Stimme abzugeben war die einzige wirkliche Macht, die sie besaßen.
     
    Ein neuer Müllhändler hatte sein Gewerbe in Annawadi aufgezogen und füllte die Lücke, die der Niedergang der Husainschen Geschäfte gerissen hatte. Abdul verbrachte die Tage jetzt in einer winzigen gemieteten Bude am Rand der Slums von Saki Naka. Aber sosehr er sich anstrengte, einträglicher Handel war das kaum. Die Müllsucher von Saki Naka hatten ihre angestammten Geschäftspartner. Trotzdem fühlte er sich irgendwie leicht, wenn er müßig in der Tür der neuen Hütte saß und über einen fremden Maidan blickte. Hier hatten die Tragödien von Annawadi kein Gewicht. Hier wusste kein Mensch etwas von Fatima oder von den Prozessen gegen seine Familie oder von Kalus Tod oder davon, dass Sanjay und Meena Rattengift genommen hatten. Nachmittags ließ ein Mann mit der Handkurbel ein kleines Karussell kreisen und Kinder für eine Rupie ein paar Runden drehen. Die Polizei kam zwar wegen

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