Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Schmiergeld zu Abduls Kollegen, aber nicht zu ihm, wahrscheinlich weil jeder Trottel sah, dass er nichts verdiente. Er hatte hier fast so viel Zeit zum Nachdenken wie in Dongri und machte sich, vielleicht wegen der sengenden Aprilsonne, Gedanken über Wasser und Eis.
Wasser und Eis bestanden doch aus demselben Stoff. Und die meisten Menschen, dachte Abdul, bestanden doch auch aus demselben Stoff. Er selbst war vermutlich, von der ganzen Konstitution her, etwas anders als die zynischen, korrupten Leute um ihn herum – die Polizisten und diese Opferbeauftragte und der Doktor in der Pathologie, der Kalus Todesursache verfügt hatte. Wenn er die ganze Menschheit allein nach der stofflichen Substanz sortieren müsste, hätte er am Ende bestimmt nur einen einzigen gigantischen Stapel. Aber jetzt kam die interessante Entdeckung. Eis war anders – und seiner Meinung besser – als der Stoff, aus dem es bestand.
Auch er wollte etwas Besseres sein als der Stoff, aus dem er bestand. Er wollte das Eis in Mumbais Dreckwasser sein. Er wollte Ideale haben. Das Ideal, das er aus ganz eigennützigen Gründen am liebsten gehabt hätte, war der Glaube, dass Gerechtigkeit möglich war.
Im Augenblick fiel ihm dieser Glaube allerdings nicht ganz leicht. Der Verteidiger war zuversichtlich gewesen, dass Cynthias schäbiger Auftritt als Zeugin der Anklage Karam und Kehkashan entlastet hatte. Aber dann war Richterin Chauhan kurz vor den Schlussplädoyers plötzlich an ein Gericht am anderen Ende von Maharashtra versetzt worden. Ein neuer Richter musste den Fall übernehmen und nur anhand der verqueren Protokolle versuchen, da weiterzumachen, wo seine Vorgängerin aufgehört hatte.
Karam und Kehkashan waren am Boden zerstört, was auch der Opferbeauftragten nicht entging. Sie kam zum dritten Mal, um Geld zu erpressen, diesmal in Begleitung von Fatimas Witwer.
Der neue Richter sei sehr streng und halte die beiden Husains sehr wahrscheinlich für schuldig, erklärte die Dame mit der Goldrandbrille. Zum Glück sei Fatimas Witwer jedoch bereit, einen Rückzieher zu machen. Er würde seine Aussage und die seiner verstorbenen Frau zurücknehmen, und damit wäre das Verfahren beendet. Zum Preis von zwei Lakhs – fast dreitausend Euro.
Die Opferbeauftragte schien davon auszugehen, dass Slumbewohner dumm sind: Die Husains hatten sicher keine Ahnung, dass Karam und Kehkashan wegen eines Offizialdelikts vor Gericht standen, also im Namen des Staats Maharashtra, und es gar nicht in der Macht von Fatimas Witwer stand, irgendetwas zurückzuziehen, egal wie viel Geld die Husains zahlten.
Abduls Vater fragte sicherheitshalber bei seinem Anwalt nach, bevor er der Frau eine Abfuhr erteilte. Er wollte wissen, ob das, was er sich aus Urdu-Zeitungen über das Rechtssystem zusammengestoppelt hatte, auch wirklich stimmte. Es stimmte. Endlich ein kleiner Triumph des Wissens über die Korruption.
Jedes Land hat seine Mythen, und erfolgreiche Inder gaben sich gern dem Mythos hin, in ihrem Land seien Instabilität und Anpassungsfähigkeit eine romantische Affäre eingegangen – also der Idee, der rasante Aufstieg sei zumindest teilweise der chaotischen Unvorhersehbarkeit des täglichen Lebens zu verdanken. In Amerika und Europa, sagten sie, wisse jeder, was kommt, wenn man den Wasserhahn auf- oder den Lichtschalter andreht. In Indien könne man dagegen von kaum etwas sicher ausgehen, aber gerade wegen der chronischen Unsicherheit sei Indien zur Nation der kreativen Problemlöser mit den fixen Köpfen geworden.
Auch arme Leute wollten nicht generell bezweifeln, dass unsichere Verhältnisse den Erfindergeist nähren können, nur zehrte die Tatsache, dass Anstrengung und Erfolg nicht richtig aneinander gekoppelt waren, mit der Zeit ganz schön an den Kräften. »Wir probieren so viel aus«, beschrieb es ein Mädchen in Annawadi, »aber nie dreht sich die Welt in unsere Richtung.«
Dreimal in der Woche bückte sich Abdul durch das für Kinder formatierte Sicherheitstor von Dongri, jedes Mal suchte er den Innenhof nach dem Master ab. Er wollte ihm von dieser Regierungsbeamtin erzählen, die dauernd versuchte, seine Familie über den Tisch zu ziehen, und davon, wie gut der Prozess lief, bis die Richterin versetzt worden war, und wie die Polizei ihm sein Geschäft in Annawadi kaputt gemacht hatte. Zu Hause im Slum hatte er so viele Märchen über den Master erzählt, dass er inzwischen selbst glaubte, den Mann interessiere tatsächlich, wie es ihm so
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