Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
ging.
Aber Abdul fand den Master nie. Wenn er sich in die Meldeliste eingetragen hatte und wieder auf der Straße stand, überlegte er, wie er die Rückkehr noch ein bisschen hinauszögern konnte, in der Bude da in Saki Naka schaffte er doch sowieso nicht, das Geld für seine Familie zusammenzubringen. Eines Tages ging er, um wieder Kräfte zu sammeln, eine Stunde lang zu Fuß vom Jugendknast bis zum Haji Ali Dargah, dem geschichtenumwobenen Treffpunkt der Mumbaier Muslime.
»Ich bleib nicht lange«, hatte er seiner Mutter versprochen, »nur so lange, bis mein Herz wieder voll ist.«
Die Moschee und das Grabmal des Haji Ali standen auf einer kleinen, durch einen zementierten Dammweg mit dem Festland verbundenen Insel im Arabischen Meer. Salzige Böen machten aus Burkas Hunderte schwarze Luftballons, die langsam vor Abdul über den Dammweg auf die glitzernde Kuppel der Moschee zuschwebten. An beiden Straßenrändern standen Händler mit Klapptischen und verkauften Schmuck aus Strass und Wasserpistolen aus Plastik. Der Himmel über ihm war ein einziges Flügelschlagen von Möwen. Es war wunderschön – so, als ob er direkt in einen Urdu-Kalender hineinschlenderte. Plötzlich bemerkte er etwas, das in keinem Kalender zu sehen war.
Der schmale Weg zum Haji Ali Dargah war gesäumt von Einbeinen. Und Keinbeinen. Hunderte Meter lang nur hingekauerte, bettelnde Invaliden, die Totenklagen sangen und sich die Kleider zerrissen. Es war wie Fatima in irrwitziger Vervielfachung.
Hastig drehte er um. Gegen die Verwirrtheit, in der er steckte, kam selbst eine erhabene Augenweide wie der Haji Ali Dargah nicht an. Die würde nur weggehen, wenn ein Gericht ihn freisprach von dem Vorwurf, eine behinderte Frau angegriffen, gewürgt und in einen brutalen Selbstmord getrieben zu haben.
Abdul konnte viele seiner Begierden unterdrücken, aber nicht diese. Er wollte unbedingt anerkannt werden als jemand, der besser ist als das Dreckwasser, in dem er lebt. Er wollte das Urteil: Eis.
16. Schwarz und Weiß
A sha hatte schon hundert Routen für eine Flucht aus Annawadi ausgebrütet, aber in den ersten Monaten des Jahres 2009 führten noch immer alle nur in Sackgassen, und langsam fühlte sie sich ausgelaugt und traurig. Möglicherweise war ein Elektroschock schuld, hatte ihre normalen optimistischen Hirnschaltkreise unterbrochen. Möglicherweise hatte Mr. Kamble einen Fluch hinterlassen, als er endlich an seiner fehlenden Herzklappe gestorben war. Denn kurz nach seiner Einäscherung machte ihr seine bei einem Kredithai verschuldete hübsche Witwe einen ihrer nützlichsten männlichen Gefährten abspenstig.
Es war wirklich nicht das erste Mal, dass Asha ohne Vorwarnung von einem Mann sitzengelassen wurde. Aber in früheren Jahren hatte sie immer geschafft, ihre Enttäuschung in eine aufgeräumte innere Schublade zu sperren und sofort irgendein neues Ziel anzustreben. Die Frage, was und wen sie als Nächstes ausprobieren könnte, hatte ihr sogar Spaß gemacht. Inzwischen warf die Frage höchstens noch Licht auf die Tatsache, dass ihre früheren Antworten alle falsch gewesen waren. Wenn die Goldsplitter aus der Schüssel gewaschen sind, sieht man den Schlamm.
Dass sie sich so sklavisch an den Bezirksrat Subhash Sawant gehalten hatte, war die Schüssel mit dem meisten Schlamm. Kurz nach Ashas spektakulärem Navratri-Festival hatte ein Richter ihren politischen Gönner aus dem Amt gejagt, wegen Vortäuschung der Zugehörigkeit zu einer niederen Kaste. Aber auf Ashas langer Liste der Frustrationen stand noch mehr. Der Gemüseladen, für den sie ein staatliches Darlehen bekommen und von dem sie gehofft hatte, ihr Mann würde ihn von zu Hause aus betreiben. Die mühselige, aber noch immer nicht einträgliche Arbeit als Slumlord. Die Pläne, Manju als Braut zur Einkommensquelle zu machen. Der vermeintliche warme Regen aus der Beschaffung von Wohnungen für ein paar Polizisten der Wache Sahar, in denen die ihre Nebengeschäfte abwickeln konnten. Sonstige Projekte, die Monate ihrer Zeit gefressen und sich dann doch zerschlagen hatten.
Die Parlamentswahlen rückten näher, und eigentlich hätte sie Flugblätter im Slum verteilen sollen. Fünfmal am Tag riefen Parteigenossen von der Shiv Sena an und erinnerten sie daran. Auch der neue Bezirksrat rief an. Er kam von der Kongresspartei und hatte, um sich bei den Slumbewohnern beliebt zu machen, dem Maidan schmucke Pflastersteine spendiert, außerdem ein Denkmal aus schwarzem Marmor für seine
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