Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
Vom Netzwerk:
Partei. Jetzt brauchte er jemanden wie Asha. Sie hatte Macht in Annawadi, und die war wichtiger als Parteizugehörigkeiten.
    Aber Asha hatte genauso wenig Lust, einem anderen Politiker die Treue zu schwören, wie Flugblätter zu verteilen. Sie wollte einfach nur in ihrer Hütte hocken und heulen. Wenn sie aus der Vorschule zurückkam, verkroch sie sich in eine Decke und murmelte ein Gedicht in Marathi, das sie von einer Pinnwand in Mankhurd abgeschrieben hatte.
    Was du nicht willst, ist immer bei dir,
    Was du willst, ist niemals bei dir,
    Wo du nicht hin willst, musst du hin,
    Und just, wenn du denkst: endlich mehr Leben,
    Musst du bald sterben.
    Manju war erschüttert, ihre Mutter so zu sehen, zusammengerollt, aus sich selbst eine Höhle bauend, fragte aber wohlweislich nicht nach dem Grund. Sie sagte nur: »Sieht dir gar nicht ähnlich, Mummy, so still zu sitzen.«
    Sagte am nächsten Tag: »Ich bin auch müde, von den Prüfungen.« Und reichte ihr eine dampfende Tasse Tee.
    Sagte noch einen Tag später: »Ich schreibe das Gedicht noch mal ab und ganz sauber.« Ashas Tränen hatten die Tinte verschmiert.
    Als Asha an dem Abend den Kopf aus der Decke steckte, hing ihre Ode an die niedrigen Erwartungen säuberlich gedruckt und laminiert mit einer Reißzwecke an der Wand.
    Manju schob den Kummer ihrer Mutter auf einen geheimen Herzschmerz, aber Ashas Herz war vierzig Jahre alt und stur und erfahren. Das Problem war ihr Kopf. Wenn sie mal nicht über die Ursachen ihrer Misserfolge in der Vergangenheit grübelte, brütete sie über winzigste Kränkungen: Ein Polizist rief neuerdings nicht mehr zurück, ihre Parteigenossin Reena veranstaltete eine
puja
und lud sie weder zur Zeremonie noch zur Party danach. Normalerweise wäre Asha froh gewesen, die miesepetrige Reena mit ihrem Kuhgesicht nicht sehen zu müssen. Aber in ihrem jetzigen Gemütszustand verklumpten sich solche kleinen Affronts mit größeren Enttäuschungen und wurden zu einem erdrückenden Beweisbündel. Etwas Helles in ihr hatte sich plötzlich verfinstert.
    Asha war immer stolz auf ihre Konkurrenzfähigkeit gewesen, eine Eigenschaft, die sie ihren Kindern nicht weiterzugeben vermocht hatte. Vielleicht schätzte sie sie an sich besonders, weil sie ihren Kindern abging. Vielleicht verführte der Zwang, immer Sieger zu sein, mit der Zeit aber auch dazu, sich selbst zu täuschen. Statt sich einzugestehen, dass sie kaum Fortschritte machte, hatte sie sich ständig neue Erfolgsdefinitionen ausgedacht. Wenn jemand anders scheiterte, hatte sie sich jedes Mal gefühlt, als sei sie einen kleinen Schritt vorangekommen. Sie hatte die Husains übertrumpft oder auch Mr. Kamble, in gewisser Weise. Trotzdem hatten ihre eigenen Lebensumstände sich kaum verbessert. Noch immer lebte sie mit einem versoffenen Ehemann in einer beengten Hütte neben einem Klärteich. Das nagte schwer an ihrer Eitelkeit – einer Eigenschaft, die sie allerdings allen drei Kindern weitergegeben hatte. Doch noch immer hatte sie es nicht geschafft, den Zugangscode zur großen weiten Stadt zu knacken, und hier zu Hause empfanden viele Leute nur noch Abscheu für sie.
    In Annawadi herrschte Einigkeit darüber, wann die skeptische Ehrerbietung ihr gegenüber in heftige Abneigung umgeschlagen war. Es war passiert, als Asha versucht hatte, aus etwas Kapital zu schlagen, das alle fürchteten: dass ab 2010 oder 2011 die Slums am Flughafen geschleift werden würden.
    Es stand gerade wieder eine Wahl an, und auch die Slumbewohner beim Flughafen waren bekanntlich Wähler, und so schwadronierten manche Politiker noch immer vom Kampf gegen den Abriss. Dabei waren die Abrisspläne längst gemacht. Ein kleiner Teil der freigeräumten Fläche sollte für den Ausbau des Flughafens genutzt, der große Rest auf dem freien Markt verpachtet werden. Statt gut dreißig Slums sollte es noch mehr Hotels, Einkaufscenter und Bürotürme geben, vielleicht auch einen Vergnügungspark.
    Der Flächennutzungsplan für die Flughafengegend entsprach in etwa den staatlichen Vorgaben für die Slumsanierung. Danach bekamen private Investoren Baurechte auf Slumgebiet nur, wenn sie sich bereit erklärten, auch Wohnhäuser für alle Vertriebenen zu bauen, die nachweisen konnten, schon seit dem Jahr 2000 in ihren Hütten zu wohnen. Die ganze Planung bot idealen Nährboden für Korruption, mittlerweile waren etliche Kartelle des organisierten Verbrechens zu
major players
geworden. Obendrein wies sie eindeutige Mängel auf. So waren in

Weitere Kostenlose Bücher