Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
annawadischen Kinder als die verlässlichsten Zeugen. Sie waren weitgehend unempfänglich für die politischen, ökonomischen und religiösen Querelen der Erwachsenen und überlegten nicht groß, wie das wohl klang, was sie sagten. Fatimas Töchter beispielsweise, die den Streit miterlebt hatten, an dessen Ende ihre Mutter in Flammen stand, blieben ebenso dabei, Abdul Husain zu entlasten, wie andere Kinder in Annawadi. Ich lernte schnell, ihrem scharfen Blick und Verstand zu trauen.
Alles kam darauf an, bei Ereignissen selbst anwesend zu sein oder sie sofort danach zu recherchieren und aufzuzeichnen, denn im Laufe der Jahre gewichteten manche Slumbewohner ihre Erzählungen etwas anders, aus Angst, die Behörden zu verärgern. (Die Angst war nicht unbegründet: Slumbewohner, die mit mir sprachen, wurden hin und wieder von Polizisten der Wache Sahar bedroht.) Andere Annawadier arrangierten ihre Erzählungen so um, dass sie mehr psychologische Entlastung boten. Im Nachhinein attestierten sie sich oft mehr Kontrolle über Erfahrungen, als sie zum Zeitpunkt selbst gehabt hatten. Sich lange mit unglücklichen Erinnerungen aufzuhalten galt allgemein als unheilvoll und kontraproduktiv, und Abdul sprach für viele seiner Nachbarn, als er eines Tages protestierte: »Bist du eigentlich begriffsstutzig, Katherine? Ich hab dir das schon dreimal erzählt, und du hast das in deinen Computer getan. Ich hab das längst vergessen. Es soll auch vergessen
bleiben.
Also würdest du mich bitte nicht mehr danach fragen?«
Trotzdem taten er und die anderen Leute von Annawadi von November 2007 bis März 2011 alles Erdenkliche dafür, dass ich ihr Leben und ihre Nöte richtig schildern konnte. Obwohl sie genau wussten, dass ich ihre Schwächen genauso darstellen würde wie ihre Stärken, und ihnen klar war, dass sie nicht alles gut und richtig finden würden in dem Buch, das dabei herauskam.
Ich bin ziemlich sicher, dass sie nicht aus lauter Zuneigung zu mir bei dem ganzen Projekt mitmachten. Ich war ihnen sicher sympathisch, jedenfalls solange ich keine schlimmen Erinnerungen ans Licht zerrte. (Umgekehrt waren sie mir mehr als sympathisch.) Aber geduldet haben sie mich vor allem, weil sie ähnliche Befürchtungen wie ich hatten, was ihre Perspektiven in diesem Land des rasanten Wandels anging, das sie liebten. Manju Waghekar zum Beispiel sprach ganz offen über Korruption, in der leisen Hoffnung, dass das vielleicht dazu beitrug, ein faireres System für andere Kinder zu gestalten. Sie alle haben angesichts ihrer sozialen und ökonomischen Verwundbarkeit mutige Entscheidungen getroffen.
Selbstverständlich steht die Geschichte von Annawadi nicht für das ganze riesige und vielschichtige Land namens Indien, und ebenso wenig bietet sie einen ordentlichen Abriss des gesamten Zusammenhangs von Armut und Chancen in der Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Im Detail sind alle »Armutsviertel« verschieden und die Unterschiede wichtig. Trotzdem war ich verblüfft, wie groß die Gemeinsamkeiten zwischen Annawadi und den anderen
communities
sind, in denen ich Zeit verbracht habe.
Trotzdem ist Hoffnung auch im Zeitalter der Globalisierung mit ihrer »Adhoc«-Mentalität, ihren prekären Jobs und ihrem erbitterten Konkurrenzkampf keine Fiktion. Extreme Armut wird nach und nach weniger, ungleichmäßig zwar, aber bedeutend. Gleichzeitig rast das Kapital um den Planeten, ist die Vorstellung von dauerhaften Arbeitsplätzen nur noch ein Anachronismus, werden individuelle Glücksversprechen zerrieben von den Unwägbarkeiten des täglichen Lebens. Idealerweise ist der Staat dazu da, derartige Instabilität abzufedern. Ein schwacher Staat dagegen verschärft sie oft noch und erweist sich als Nährboden, auf dem Korruption besser gedeiht als menschliche Fähigkeiten.
Die meistunterschätzte Folge der Korruption ist meiner Meinung nach nicht, dass ökonomischen Chancen schrumpfen, sondern dass unser moralisches Universum schrumpft. Ich bin bei meinen Reportagen immer wieder verblüfft, welche klaren Wertvorstellungen ganz junge Menschen haben, sogar wenn sie unter so verzweifelten Bedingungen leben, dass man ihnen eher Eigensucht zugestehen würde. Leider haben Kinder kaum die Macht, nach solchen Vorstellungen zu handeln, und so werden aus ihnen eines Tages womöglich auch Erwachsene, die einfach weitergehen, wenn ein Müllsammler langsam am Straßenrand verblutet, die sich abwenden, wenn eine brennende Frau sich vor Schmerzen krümmt, deren erste
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