Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Probleme – die Korruption und die Ausbeutung der Schwachen durch nicht ganz so Schwache – schwelten derweil nahezu unangetastet weiter.
Im Westen und bei manchen Angehörigen der indischen Elite war das Wort
Korruption
ausschließlich negativ besetzt, sie galt als Bremse für die globalen Ambitionen des modernen Indien. Aber für die Armen eines Landes, in dem Korruption Chancendiebstahl im großen Maßstab bedeutete, war Korruption eine der wenigen echten Chancen, die sie überhaupt hatten.
Als Manju mit Kochen fertig war, schaltete Asha den Fernseher an. Es war der erste in ganz Annawadi gewesen, aber irgendwann war mit den Farben etwas schiefgegangen. Ein puterroter Nachrichtensprecher verlas aktuelle Meldungen über Baby Lakshmi. Die Kleine war mit acht Gliedmaßen geboren und dementsprechend nach der vielgliedrigen Hindu-Göttin benannt worden. Vor ein paar Monaten hatte ihr ein Team von Spitzenchirurgen in Bangalore ein paar der Glieder entfernt. Die Reportage enthielt alle typischen Zutaten: Wunder vollbringende neue Medizintechnik, heldenhafte Chirurgen, ein Stück Heimvideo von der Kleinen, inzwischen zwei Jahre alt und angeblich glücklich und normal. Aber selbst bei schlechtester Bildqualität war nicht zu übersehen, dass es ihr nicht gutging. Asha war der Meinung, die Familie könnte finanziell viel besser dastehen, wenn sie Lakshmi nicht angerührt, sondern als Zirkusnummer vermarktet hätte. Andererseits war so ein Bericht über medizinische Wunder genau das Richtige, um Mr. Kamble Feuer unterm Hintern zu machen, er sah den marathisprachigen Sender nämlich auch.
Jeder in Annawadi wünschte sich eine dieser wundersamen Schicksalswenden, die im Neuen Indien angeblich geschahen. Jeder wollte gern aus der Gosse zu den Sternen, wie man so sagte, und zwar am liebsten sofort. Auch Asha glaubte an die Wunder des Neuen Indien, war aber überzeugt, dass sie nur schrittweise passierten, durch den allmählichen Ausbau der Zuwachsvorteile, die man selbst im Gegensatz zu seinen Nachbarn hatte.
Ihr Fernziel hieß nicht nur Slumlord, sondern Bezirksrätin für den Wahlbezirk 76 – ein Traum, der dank der neuen fortschrittlichen, international anerkannten Gesetzgebung immer realistischer wurde. Frauen sollten bei der Führung des Landes eine bedeutendere Rolle spielen, und um das durchzusetzen, waren alle Parteien gehalten, bei bestimmten Wahlen ausschließlich Kandidatinnen aufzustellen. Bei der letzten dieser Frauen-Wahlen im Bezirk 76 hatte Subhash Sawant sein Hausmädchen ins Rennen geschickt. Die Frau hatte die Wahl gewonnen und er den Bezirk weiter geführt. Asha fand, bei der nächsten reinen Frauen-Wahl sollte er lieber sie aufstellen, sein neues Hausmädchen war nämlich taubstumm – ideal für einen Geheimniskrämer wie ihn, aber nicht für einen Wahlkampf.
Der Wahlbezirk 76 umfasste auch etliche andere, größere Slums, und Asha hatte einen ersten Schritt unternommen, um sich außerhalb der Grenzen von Annawadi einen Namen zu machen: Sie hatte in ein riesiges Plastik-Transparent investiert, mit ihrem Namen, ihrem Porträt in Farbe und einer Liste ihrer Erfolge als Vertreterin des Shiv-Sena-Frauenflügels darauf. Das Transparent hing jetzt knapp einen Kilometer entfernt auf einem Markt. Leider hatte sie auch Fotos von drei weiteren Shiv-Sena-Frauen dazunehmen müssen. Der Bezirksrat hatte sie ein paarmal gewarnt, nicht alles an sich zu reißen.
»Aber bezahlen durfte ich den ganzen Mist allein«, beschwerte sie sich bei ihrem Mann, der zum Abendessen aufgetaucht war, erfreulicherweise einmal nicht rauflustig besoffen, sondern fröhlich besoffen. »Die andern Frauen da, die sind doch geistig immer noch vom Dorf«, erklärte sie ihm. »Die kapieren einfach nicht, dass es später mehr bringt, wenn man früh ein bisschen was springen lässt.«
Auch Rahul und Ganesh, der Jüngste, kamen herein. Asha stand lachend auf und zerrte Rahul die Cargojeans von den Hüften hoch. »Ich weiß, ist der
style,
dein
style, American style
«, sagte sie. »Kann ja alles sein, ist trotzdem albern.« Zum Essen gab es Linsen, matschiges Gemüse und krokelige Rotis aus Weizenmehl, alles schmeckte wie absichtlich fade, vielleicht ein Ergebnis von Manjus stillem Zorn wegen Mr. Kamble.
Asha wusste, dass ihre Tochter sie verachtete, all ihre Machenschaften und Nebengeschäfte und all diese nächtlichen Treffen mit dem Bezirksrat, mit Polizisten und Stadtverwaltungsbürokraten, ohne die offensichtlich nichts
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