Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
ging. Aber ebendieses Politikgeschäft, das Manju nur verächtlich fand, hatte ihr zur Collegeausbildung verholfen und verhalf eines Tages vielleicht der ganzen Familie zum Aufstieg in die Mittelschicht.
»Muss ich dir eigentlich jedes Mal wieder beibringen, wie man richtig runde Rotis macht?«, stichelte Asha und hielt ein Roti hoch. »Also wirklich! Wer soll dich denn mal heiraten, wenn du so lächerliches Brot machst?«
Der Fladen baumelte zwischen Ashas Fingerspitzen und war so hoffnungslos missraten, dass sogar Manju lachen musste. Also, nahm Asha – irrigerweise – an, hatte ihre Tochter Mr. Kamble wohl doch vergessen.
3. Sunil
A bdul war immer ein unruhiger Typ gewesen, aber im Februar 2008 wirkte er auf die Müllsuchertruppe noch nervöser als sonst: Er klimperte mit den Münzen in der Tasche, schlackerte mit den Beinen, als ob er gleich losspringen wollte, und kaute auf einem Streichholz herum, während seine Zunge hinter den Zähnen irgendwie Amok lief. Seit kurzem schlugen überall in Mumbai lokale Jugendgangs Migranten aus nördlichen Bundesstaaten zusammen, mit dem Ziel, die sogenannten
bhaiyas
aus der Stadt zu vertreiben und auf diese Weise weniger um Jobs rangeln zu müssen.
Abdul war zwar in Mumbai geboren, aber sein Vater war ein Migrant aus dem Norden, und das machte seine Familie ziemlich konkret zur Zielscheibe. Auch in den Slums um den Flughafen gab es Krawalle, junge Männer schrien: »Macht die Bhaiyas platt!«, raubten die kleinen Läden von Nordindern aus, zündeten die Taxis von Nordindern an und klauten zugewanderten Straßentrödlern die Waren von den Decken auf dem Pflaster.
Solche Krawalle von Armen gegen Arme waren weder spontan noch gar Protest von unten gegen den Mangel an Arbeitsplätzen in der Stadt. Das waren Krawalle im heutigen Mumbai nur selten. Diese Kampagne gegen die Zuwanderer kam aus der Oberstadt und war inszeniert von einem ehrgeizigen Politiker – einem Neffen des Gründers der Shiv-Sena-Partei. Der aufstrebende Neffe hatte eine neue Partei gegründet und wollte den Wählern demonstrieren, dass man in seiner Partei Bhaiyas wie Abdul noch mehr hasste als in der Shiv Sena.
Abdul stellte die Arbeit ein und ging nicht mehr vor die Tür. Er hielt sich lieber fern von der Gewalt, deren grausigen Folgen ihm die Müllsucher beschrieben. Gebrochene Rippen, eingetretene Schädel, zwei Männer angezündet – »Schluss jetzt«, brüllte Abdul eines Abends. »Hört jetzt bitte auf damit! Die ganze Randale ist doch Show, das sind bloß ’n paar bescheuerte Mistkerle, die machen Krawall, um die Leute einzuschüchtern.«
Er wiederholte nur, was er von seinem Vater Karam gehört hatte. Karam wollte mit solchen Beschwichtigungen verhindern, dass seine Kinder ihre Nase zu tief in die Dinge des indischen Lebens steckten, auf die sie ohnehin keinen Einfluss hatten. Untereinander tuschelten auch Karam und Zehrunisa manchmal über die Unruhen zwischen Hindus und Muslimen, die es schon 1992 und 1993 in Mumbai und 2002 im Nachbarbundesstaat Gujarat gegeben hatte, aber ihre Kinder setzten sie lieber auf eine Art patriotische Diät und sangen Loblieder auf Indien, wo tolerante Bürger aus tausend Ethnien, Glaubensrichtungen, Sprachen und Kasten prima miteinander auskamen.
Besser als die ganze Welt ist unser Hindustan,
Wir sind seine Nachtigallen, Und es ist unser Heimatgarten.
So ging die Hymne des Hinduvolkes nach den Versen des großen Urdu-Dichters Iqbal, Karam hatte sie als Klingelton auf dem Handy. »Zuerst müssen die Kinder mal lernen, wie man an Brot und Reis kommt«, erklärte er seiner Frau. »Wenn sie älter sind, können sie sich immer noch den Kopf über andere Dinge zerbrechen.«
Sunil Sharma, ein zwölfjähriger Müllsucher mit einer guten Auffassungsgabe, wusste jedoch genau, was das hektische Streichholzkauen zu bedeuten hatte: Abdul, der Müllsortierer, war höchst beunruhigt.
Auch Sunil war ein Bhaiya, aber Hindu, und er wunderte sich über Abdul, der seiner Meinung nach härter schuftete als sonst jemand in Annawadi – »der steckt Tag und Nacht mit dem Kopf in der Arbeit«. Er hatte ihm einmal im grellen Sonnenlicht ins Gesicht geguckt und war furchtbar erschrocken. Bis auf die Kinderaugen, schwarz wie Schlüssellöcher, hatte Abdul ausgesehen wie ein gebrochener Greis.
Sunil war ein Knirps und noch zierlicher als Abdul, hielt sich aber für klüger und reifer als die anderen Müllsucher. Für sein Alter war er ungewöhnlich geschickt darin, Leuten
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