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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Körper durch die Gegend geschleppt und bei Politikern, Wohlfahrtsverbänden und Gemeindestellen um Spenden für seinen Herzklappenfonds gebeten. Der Bezirksrat hatte dreihundert Rupien gespendet. Der Manager einer Farbenfabrik sogar tausend. Aber trotz Hunderten von Leuten, die er angehauen hatte, fehlten Mr. Kamble noch vierzigtausend Rupien.
    Jetzt rang er sich ein Lächeln ab und zeigte Asha zehn wohlgeformte gelbe Zähne, die in seinem verwüsteten Gesicht riesig wirkten. »Ich will kein Almosen«, sagte er. »Ich will mein Herz wieder heil gemacht kriegen und wieder arbeiten können, ich möchte doch noch erleben, wie meine Töchter heiraten. Kannst du mir nicht so ein staatliches Darlehen besorgen?«
    Ihm war zu Ohren gekommen, dass Asha ihre zarten Finger in den Schummeleien um eines der vielen Anti-Armut-Projekte hatte, die die Zentralregierung in Neu-Delhi auflegte, um mehr Landeskinder in ihre Wachstumsstatistik zu holen. Neu-Delhi vergab staatliche Darlehen zu subventionierten Niedrigzinsen an Leute, die damit Kleinunternehmen gründen, also neue Arbeitsplätze schaffen sollten. Solche Start-ups waren allerdings oft reine Fiktion. Da beantragte zum Beispiel ein Slumbewohner ein Darlehen für eine imaginäre Firma, ein Bezirksbeamter bestätigte, dass sie dem bedürftigen Bezirk soundso viele Arbeitsplätze einbringen würde, und ein Manager der staatlichen Dena-Bank bewilligte die Auszahlung. Einen Batzen der Gesamtsumme strichen der Beamte und der Bankmanager dann selbst ein. Asha hatte sich mit dem Bankmanager angefreundet und half ihm in Annawadi bei der Auswahl der solcherart für kreditwürdig Befundenen – gegen ein eigenes Stück vom Kuchen, wie sie hoffte.
    Mr. Kamble hatte beschlossen, dass seine imaginäre Firma ein Imbissstand sein sollte, so einer wie der, in dem er zur Zeit der glücklichen Fügung gearbeitet hatte. Wenn er ein staatliches Darlehen von fünfzigtausend Rupien bekäme und Asha dem Bankmanager und dem Beamten jeweils fünftausend abgäbe, fehlten ihm zur Herzklappe nur noch fünftausend Rupien, und die könne er sich bei einem Kredithai besorgen.
    »Du siehst, in welcher Lage ich bin, Asha«, sagte er. »Keine Arbeit, kein Einkommen, solange ich nicht operiert bin. Und wenn ich die OP nicht kriege – na, du weißt ja.«
    Sie musterte ihn und ließ nur ein
Ch-Ch
hören, wie sie es oft tat, wenn sie nachdachte. »Ja, ich sehe, du steckst in einer üblen Lage«, sagte sie endlich nach einer Weile. »Und ich glaube, du solltest in den Tempel gehen. Oder nein, geh beten, zu meinem Guru Gajahnan Maharaj.«
    Er sah sie verdutzt an. »Beten?«
    »Ja. Du solltest täglich für das beten, was du dir wünschst. Das Darlehen, deine Gesundheit – bete darum zu diesem Guru. Gib die Hoffnung nicht auf, bitte ihn um Hilfe, und vielleicht wird sie dir gewährt.«
    Ashas Tochter Manju holte tief Luft. Als sie kleiner war, hatte sie sich manchmal den sanften Mr. Kamble als Vater gewünscht. Und sie wusste ebenso gut wie Mr. Kamble, dass Asha, wenn sie ihn in den Tempel und zu der menschlichen Inkarnation ihres Gottes schickte, ihm eigentlich sagen wollte, er solle mit einem besseren finanziellen Angebot wiederkommen.
    »Aber wir sind doch Freunde – du kennst mich doch, ich dachte …« Mr. Kamble klang, als habe er Sand verschluckt.
    »Ein Darlehen zu besorgen ist nicht so einfach. Und ich möchte, eben weil wir Freunde sind, dass du dafür göttlichen Beistand bekommst. Damit du ein langes gutes Leben hast.«
    Mr. Kamble humpelte davon, und Asha wusste, er würde garantiert schneller wieder bei ihr als in irgendeinem Tempel sein. Wer vom Tod gezeichnet war, musste doch wohl bereit sein, etwas springen zu lassen, um am Leben zu bleiben.
    Asha selbst mied den Tempel seit einiger Zeit. Sie hielt sich zwar für eine gläubige Frau, aber sie hatte in den letzten Wochen festgestellt, dass sie auch ohne Beten oder Fasten von den Göttern bekam, was sie wollte. Eine Zeitlang hatte sie erwogen, den Ruin einer Nachbarin zu erbitten, denn die verbreitete ordinären Tratsch über den Charakter von Ashas Beziehung zum Bezirksrat, aber bevor sie dazu Gelegenheit hatte, war deren Mann krank geworden, der ältere Sohn von einem Auto angefahren worden und der jüngere vom Motorrad gefallen. Aus diesem und anderen Indizien schloss Asha, dass sie auf eine kosmische Glücksschiene geraten war. Womöglich auf genau die Schiene, aus der Mr. Kamble vor kurzem gesprungen war.
    Ganz hinten im Raum bekam

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