Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Manju einen Wutanfall – einen von der stillen Sorte, zu anderen war Manju ohnehin nicht fähig. Sie knallte die gehackten Zwiebeln mit solcher Wucht in die Pfanne, dass ein paar wieder raus und auf den Fußboden flogen. Asha zog eine Augenbraue hoch. Bestimmt traf sich Manju nachher wieder mit ihrer Freundin Meena an der öffentlichen Toilette, wo es einem von allein schon die Tränen in die Augen trieb, und heulte sich darüber aus, dass ihre Mutter einen sterbenskranken Nachbarn wegschickte. Asha durfte eigentlich gar nichts wissen von den Klatschrunden beim Klo, aber in Annawadi geschah kaum etwas, das nicht irgendwann bei ihr ankam.
Sehr zufrieden war Asha mit Manjus Gehorsam, ihrer allgemein gelobten Schönheit und ihrer Collegeausbildung, die den Haushalt um komische Namen wie »Titania« und »Desdemona« bereicherte. Die Gefühlsduselei ihrer Tochter dagegen war wohl das Ergebnis ihres eigenen elterlichen Versagens. Manju gab nachmittags stundenweise einigen der ärmsten Kinder von Annawadi Englischunterricht – der Job war Ashas Idee gewesen, er spülte dreihundert Rupien im Monat in die Haushaltskasse –, aber neuerdings erzählte Manju andauernd von irgendwelchen hungernden Kindern, die von ihrer Stiefmutter geschlagen wurden.
Asha war sich der Widersprüche ihres Lebens durchaus bewusst, zum Beispiel dass man einerseits stolz darauf sein konnte, seinen Kindern Not und Elend erspart zu haben, und andererseits neidisch auf sie sein konnte, weil sie ihnen erspart geblieben waren. In Ashas Kinderjahren hatten die Mädchen der Familie eben nichts zu essen gekriegt, wenn es nicht genug für alle gab. Die meisten Menschen beschrieben Hunger als einen Vorgang im Magen, Asha dagegen hatte einen Geschmack in Erinnerung – etwas Fauliges, das sich in der Zunge eingenistet hatte und manchmal plötzlich wieder da war, beim Schlucken, Jahrzehnte später. Wenn Asha das zu beschreiben versuchte, sah Manju sie immer voller Mitgefühl an, ohne sie recht zu verstehen.
So routiniert Asha die Beschwerden ihrer Mitbürger auch nach jedem finanziellen Hebel durchsuchte, bisher waren die meisten einfach lästig – zum Beispiel die Zankereien zwischen diesem muslimischen Karnickel Zehrunisa Husain und Fatima Einbein darüber, wessen Blag wessen Blag gezwickt hatte. Asha hatte für beide Frauen nichts übrig. Fatima verprügelte ihre Kinder mit der Krücke. Und Zehrunisa trug die Nase für Ashas Geschmack unerträglich hoch. Noch vor drei Jahren hatten die Husains nach einem mörderischen Monsun kein Dach über dem Kopf gehabt, für Rahul die Gelegenheit, seine Parodie der heulenden Zehrunisa zur Perfektion zu bringen. Heutzutage wurde gemunkelt, sie und ihr mürrischer Sohn Abdul würden das Geld nur so scheffeln. »Dreckiges Muslim-Geld,
haram ka paisa
«, nannte Asha es. Sie konzentrierte ihre Ambitionen lieber auf Anti-Armut-Projekte als auf Müll.
Jetzt, wo sie wusste, wie der Laden lief, erschien ihr eine Frauenselbsthilfegruppe mit staatlicher Förderung recht vielversprechend. Das Projekt sollte eigentlich finanzschwache Frauen ermutigen, ihre Ersparnisse in einen gemeinsamen Topf zu werfen und sich in Notzeiten gegenseitig Kredite zu niedrigen Zinsen zu geben. Ashas Selbsthilfegruppe dagegen verlieh das Geld aus dem Topf lieber zu hohen Zinsen an noch ärmere Frauen, denen sie vorher den Zugang zum Kollektiv verweigert hatte – an die alte Frau zum Beispiel, die Abflussrohre von Unrat befreien durfte und die ihr den Sari gebracht hatte.
Trotzdem kamen manchmal Regierungsvertreter in Begleitung von ausländischen Journalistinnen, die sich in Mumbai mal umsehen wollten, ob Selbsthilfegruppen wirklich der Frauenförderung dienten. Asha oblag es dann, auf gut Glück ein paar Nachbarinnen zusammenzutrommeln, die züchtig lächelten, während die Beamten schwadronierten, wie schön das Kollektiv sie aus der Armut befreit hatte. Danach wurde Manju herbeizitiert, und ihre Mutter sagte den Schlüsselsatz: »Und demnächst ist meine Tochter mit dem College fertig, von keinem Mann abhängig.« Wenn Asha das sagte, zerflossen die Ausländerinnen vor Rührung.
»Große Leute denken immer, wir hätten keine Ahnung, bloß weil wir arm sind«, erklärte sie ihren Kindern. Asha hatte eine Menge Ahnung. Sie war ein Rädchen in diesem nationalen Gaukelspiel, bei dem angeblich Indiens alte Probleme endlich offensiv angegangen wurden – die Armut, Krankheiten, der Analphabetismus, die Kinderarbeit. Andere alte
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