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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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funktionierenden Kühlschrank. Nur eng und feucht war es immer noch, und zwar infolge einer Güterabwägung. Um die wohnliche Verschönerung zu finanzieren, die der Nachbarschaft ihre wachsende Macht demonstrieren sollte, vermietete Asha einen Teil ihres Wohnraums an Zuwanderer, die ständig neu nach Mumbai hereinströmten. Die Untermieter hausten in einem Nebenzimmer, einem Hinterzimmer und auf dem Dach.
    Die Shiv-Sena-Partei war diesen Migranten feindlich gesinnt, aber Asha hatte derlei Dinge schon immer eher praktisch als ideologisch gesehen, und ihr war kein finanzieller Vorteil zu gering. »Was schert’s euch, wenn andere Leute uns für Pfennigfuchser halten?«, fragte sie ihre Kinder. Viele Regentropfen machen einen Teich voll, sagte man in ihrem Dorf.
    »Beeil dich, hier warten Leute«, sagte Asha jetzt ins Handy. Am anderen Ende war ihre jüngere Schwester, auf die sie eifersüchtig war. Deren Mann war Fahrer und arbeitete hart, und sie hatten eine Stereoanlage in ihrer Hütte in einem Nachbarslum und vier puschelige weiße Hunde, einfach so zum Spaß. Zu Ashas Trost hatte ihre Schwester eine einfältige und trödelige Tochter. Wie anders war dagegen ihre Manju, das einzige Mädchen in Annawadi, das aufs College ging. Im Augenblick knetete Manju Hefeteig fürs Abendessen und tat, als bekäme sie nichts mit von den Gesprächen ihrer Mutter.
    Ashas Schwester wollte gern selbst ins Problemlösungsgeschäft und hielt es für einen guten Einstieg, dass in ihrem Slum gerade ein Hindu-Mädchen mit einem Muslim-Jungen durchgebrannt war. Asha ging mit dem Handy vor die Hütte und senkte die Stimme. »Die Hauptsache ist«, riet sie ihrer Schwester, »dass du der Familie des Mädchens Geld abnimmst, aber du darfst auf keinen Fall sagen, dass es für dich ist. Erzähl ihnen, die Polizei verlangt das. Ich muss Schluss machen.«
    Als Asha wieder hereinkam, erstarrte Raja Kamble, ein alter Freund, denn jetzt war er an der Reihe. Asha und Mr. Kamble waren zur selben Zeit nach Annawadi gekommen, ihre Kinder waren zusammen aufgewachsen. Inzwischen sah Mr. Kamble erbarmungswürdig aus, er war nur noch Haut und Knochen und tiefe Augenhöhlen. Er hoffte, dass Asha ihm das Leben rettete.
    Mr. Kamble kam aus noch elenderen Verhältnissen als Asha. Er war als Säugling ausgesetzt worden und hatte auf der Straße und von den erbärmlichsten Jobs gelebt, unter anderem hatte er Büros abgeklappert und Duftläppchen, die man in die Hörmuschel des Telefons stopfen konnte, zu verkaufen versucht, für eine verschwindend geringe Umsatzbeteiligung. »Ein wohlriechendes Telefontüchlein gefällig,
sa’ab?
Lässt Sie die stinkige heiße Jahreszeit vergessen!« Mit Mitte dreißig hatte ihn plötzlich ein Glücksstrahl getroffen. Damals arbeitete er in einem Imbissstand am Bahnhof, und ein Stammkunde, der für die Stadtverwaltung Sanitäranlagen wartete, fand ihn sympathisch und hatte Mitleid mit ihm. Der Mann bedachte ihn kurz nacheinander mit seinem eigenen Namen, einer Braut und dem heiligen Gral aller armen Leute von Mumbai: mit einer festen Stelle, so wie seine.
    Mr. Kamble brauchte nur Klohäuschen zu putzen und die Dienstzeiten seines Wohltäters und anderer Mitarbeiter des städtischen Sanitärwesens zu frisieren, damit die ihre städtischen Gehälter einstreichen und währenddessen anderen Jobs nachgehen konnten. Er fühlte sich geehrt durch so viel Verantwortung. Er und seine Frau bekamen drei Kinder, ihre Hütte bekam Ziegelsteinmauern und einen Käfig für zwei Haustauben an einer Wand. (In den Jahren auf der Straße hatte Mr. Kamble eine tiefe Zuneigung zu Vögeln entwickelt.) Sein Leben war eine von Annawadis großen Erfolgsstorys. Ihm gebührten Anreden wie
ji
oder
mister
 – bis zu dem Tag, an dem er beim Latrinenputzen zusammengeklappt war.
    Er hatte ein kaputtes Herz. Die Stadtverwaltung entließ ihn mit den Worten, wenn er eine neue Herzklappe habe und ein Arzt die Unbedenklichkeit bescheinige, könne er wiederkommen. Herzklappen wurden in Mumbais städtischen Krankenhäusern praktisch kostenlos eingesetzt, nur erwarteten die Ärzte dort alle unter der Hand Geld. Sechzigtausend Rupien, über neunhundert Euro, wollte der Chirurg im Sion Hospital haben. Der im Cooper Hospital verlangte noch mehr.
    Auf jeden zweiten Annawadier, der es auch nur einen Zentimeter nach oben schaffte, kam einer, den es in die Katastrophe riss. Aber noch hatte Mr. Kamble Hoffnung. In den letzten zwei Monaten hatte er seinen unzuverlässigen

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