Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
auf die Straße und in die gleißende Sonne stolperte, war ihm übel wegen dem Verrat an der Hündin. Es ging ihm erst besser, als er sich den Bauch mit Essen vollgeschlagen hatte.
Ein paar Wochen später bat ihn Kalu wieder um Hilfe. Sunil dachte an all die Diebe, die sich mit Chilihuhn-Reis vollstopften, und verglich eine eventuelle Karriere als Dieb mit der Müllsammelei, die einem vor allem Maden, Beulen und orangerote Augen einbrachte. Aber vorerst, beschloss er, wollte er lieber bei seinen Mülltonnen und seinem Betonsims über dem Mithi bleiben.
Abdul schien erleichtert über seine Entscheidung, allerdings war Sunil nie sicher, ob er diesem greisenhaften Jungen wirklich alle Gedanken vom Gesicht ablesen konnte. Aber Kalu drängelte nicht weiter, und das war gut, denn Sunil war auch nicht sicher, ob jemand anders mit den Gründen für seine Entscheidung etwas hätte anfangen können. Irgendwie hatten sie damit zu tun, dass er es nicht mal am profitabelsten Tag seines Lebens geschafft hatte, in diese Hochstimmung zu kommen, die die anderen Jungen »die volle Lust« nannten – was nur teilweise an der erwürgten Hündin gelegen hatte. Aber Sunil hatte sein Müllsucherdasein manchmal so auf den Punkt gebracht: »Ich mag mich selbst nicht bei der Arbeit. Das fühlt sich an, als ob ich eine Beleidigung bin.« Und als Dieb, überlegte er jetzt, würde er sich vielleicht noch weniger mögen. Außerdem war ihm nicht wohl bei dem Gedanken an Kalus Deals mit der Polizei von Sahar.
Sunil sollte später noch genauer erfahren, wie viel Macht Mumbaier Polizisten über Straßenjungen aus Annawadi hatten. Im Augenblick konnte er bei allem Geschick, hinter heimliche Motive zu kommen, nur den einen Schluss ziehen: Die Mechanismen hinter Kalus nächtlichen Jobs überstiegen das Fassungsvermögen eines Zwölfjährigen bei weitem.
4. Manju
D ie ganze Handlung von diesem Roman
Mrs. Dalloway
leuchtete ihr überhaupt nicht ein. Manju fühlte sich so schlapp bei der College-Lektüre, dass sie fürchtete, sich schon wieder Dengue-Fieber oder Malaria eingefangen zu haben – wäre ja auch kein Wunder bei ihrem Leben zehn Meter neben einem sirrenden Klärteich. Nein, beschloss sie. Es lag einfach am Wetter: Es war zwar erst Frühling, aber die Sonne glühte schon sengend heiß, eine messerscharfe weiße Kraft, von der einem die Augen brannten und die Wasserbüffel von Annawadi vorzeitig brünstig wurden. Auch ihre Mutter sah fahl aus, fand Manju, aber das lag vielleicht daran, dass Bezirksrat Subhash Sawant – der Mann, von dem Asha zum Slumboss gekürt zu werden hoffte – ein Verfahren wegen Wahlbetrugs am Hals hatte.
Als Manju wissen wollte, ob da was dran war, hatte Asha zuerst abgewunken. Ihr Boss hatte früher auch schon zwei Mordanzeigen aus der Welt geschafft. »Mit Mumbaier Gerichten lässt sich alles regeln«, wie der Bezirksrat zu sagen pflegte. Und warum sackte ihm dann offensichtlich die ganze Körpermasse vom Brustkorb in den Bauch? Auch der ewig klebrige Kragen schien nicht allein mit dem Klima zu erklären.
Parallel zur Verfügung der indischen Zentralregierung, dass bei bestimmten Wahlen nur Frauen kandidieren durften, waren bei anderen Wahlen ausschließlich Kandidaten aus den niederen Kasten zugelassen. Damit sollte den traditionell von der politischen Führung des Landes ausgeschlossenen Bevölkerungsgruppen mehr Teilhabe ermöglicht werden. Im vergangenen Jahr hatten im Bezirk 76 nur Leute aus den niederen Kasten antreten dürfen, und Subhash Sawant hatte sämtliche Wahlen locker gewonnen. Nicht dass er aus einer niederen Kaste stammte – er hatte sich nur kurzerhand einen neuen Nachweis der Kastenzugehörigkeit gebastelt, samt einem neuen Geburtsort und einem Satz neuer Vorfahren, um dem Wahlrecht zu genügen. So hatten es auch mindestens zehn weitere Leute in anderen Wahlbezirken gemacht, zumeist Kandidaten für die Shiv Sena.
Jetzt hatte sich allerdings der auf dem zweiten Platz gelandete Kandidat der Kongresspartei von Wahlbezirk 76 an das Mumbaier Kammergericht gewandt, er hatte Belege über Subhash Sawants Fälschungen eingereicht und die Richter aufgefordert, die Wahl für ungültig zu erklären. Und plötzlich verspürte der Bezirksrat einen Drang nach Bürgernähe. Seit mehr als zehn Jahren war er jetzt Boss dieses Wahlbezirks, an die Zeit davor mit der Autorikschafahrerei und den kleinkriminellen Lumpereien konnte er sich kaum noch erinnern. Und so machte er sich jetzt auf den Weg in alle
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