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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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überquerten, wickelte er sich das Laken um. Er bibberte, obwohl die Nacht nicht kalt war. Kalu drehte sich um und lachte. »Du erschreckst ja die Leute! Die glauben doch, du bist ’n wandelndes Gespenst!« Widerstrebend klemmte Sunil sich das Laken unter den Arm, als sie auf der Straße zum internationalen Terminal ankamen.
    Noch immer fuhren Autos vom Flughafen weg. »Nachtflüge aus Europa und Amerika«, erklärte Kalu. In seiner Gepäckträgerzeit hatte er sich Flugpläne und Namen von allen möglichen Weltstädten eingeprägt. Das dickste Trinkgeld, sagte er, gaben Saudis, Amerikaner und Deutsche, in der Reihenfolge.
    Hinter der blinkenden Tafel für die Abflüge und einer Sicherheitsschranke mit der Aufschrift »Glückliche Reise« sprinteten die beiden Jungen eine halb gepflasterte Durchfahrt für Baufahrzeuge hinunter und bogen auf einen noch schmaleren stockfinsteren Weg. Auf dem konnte Sunil sich blind bewegen. Es gab ein paar hohe Zäune, hinter denen Catering-Menüs produziert wurden, und danach kam eine Stelle, die als Klo im Freien genutzt wurde und wo er oft leere Wasserflaschen gefunden hatte. Diese Brache ließen die Jungen im Sprint hinter sich. Jetzt standen sie am Rand eines breiten Abwassergrabens, der vom Mithi gespeist wurde. Sunil kam hier manchmal her, um ein paar Magurfische zu angeln, die er im Slum verkaufen konnte. Als er kleiner war, war das Wasser noch blau gewesen – »wie in Swimmingpools«, sagte er. Inzwischen war es schwarz und schmutzig, aber die Fische schmeckten noch immer süß.
    Rechts hinter dem Graben ragten Sicherheitszäune hoch, zum Schutz der flutlichtbestrahlten Hangars. Jets rollten für die Nacht hinein. Ganz weit links hinter dem Graben, wo sie nach Kalus Plan hin mussten, war alles dämmerig und ruhig. Sunil konnte einen dürren Ashokabaum erkennen und dahinter, verschwommen, etliche schuppenartige große Gebäude. Kalu sprang in das brackige Wasser und kraulte darauf zu. Auch Sunil schwamm los und watete weiter, sobald er sah, dass Kalu auch watete. Das Wasser im Graben hatte nur eine sanfte Strömung, der Monsun lag neun Monate zurück. Trotzdem hatte Sunil Schiss, als er das andere Ufer hochkletterte.
    Was Kalu als »Werkstätten« bezeichnet hatte, war eine riesige neue Fabrikanlage. Schmelzwerk. Weichmacher. Schmiermittel. Die Firma hieß Gold-I-Am Schmuck GmbH. Bläuliche Lampen vor manchen der Lagerhallen warfen ihr Licht auf die Umrisse uniformierter Wachmänner, und die warfen ihrerseits zehn Meter lange Schatten.
    Sunil wollte am liebsten sofort zurück ins Wasser. Aber Kalu hatte eine komplizierte Route zu der Stelle mit dem Unkraut ausgetüftelt, wo er seine Eisenteile versteckt hatte. »Da können die Wachleute nicht hingucken«, sagte er. »Geht ganz leicht.« Und so war es. Für Sunil sahen die Eisenteile aus wie Hanteln, und wenn man sie aus dem Gestrüpp hochzog, waren sie auch schwer wie Hanteln. Und das erwies sich als das große Problem dieser Nacht: Wie viel Gewicht konnten sie schwimmend bewältigen? Die beiden Jungen rollten ihre Laken zu Schlingen und probierten es mit drei Teilen pro Kopf.
    Schwankend machten sie sich mit ihrer Bürde auf den Weg und kamen eine Viertelstunde später klitschnass in Annawadi an. Als Abdul im Morgengrauen aufwachte, hatten sie ihm Eisen angeschleppt, für das er 380 Rupien zahlte, und Sunil bekam ein Drittel davon. Wie hoch der Anteil der Polizisten war, erfuhr er nicht. Kalu jedenfalls wirkte still vergnügt über seinen Gewinn. Und Sunil hatte zum ersten Mal im Leben Geld zur freien Verfügung.
    Also auf ins Kino. Kalu kannte den Weg zum Pinky Talkie Town, wo Sunil allein von dem Teppich und der Sauberkeit wie hypnotisiert war. Der Mittagsfilm war irgendwas Amerikanisches, der Hauptdarsteller hieß Will Smith und war offenbar der einzige Mensch auf der Leinwand, der eine Seuche in New York überlebt hatte. Auch eine Hündin hatte überlebt und sich mit dem Helden angefreundet. Die Hündin war gelb und hatte einen großen schwarzen Fleck auf dem Rücken, der sah aus wie ein Sattel, und der Mann redete mit ihr, als ob sie alles verstehen könnte. Dann, kurz vor dem Ende, erwürgte er sie.
    Sunil überlegte, dass der Held bestimmt ein Motiv für den Mord an seinem einzigen Freund hatte. Neben dieser Seuche hatte es auch noch einen Geist und eine Explosion gegeben, und beide hatten zweifellos irgendwie mit der Entscheidung des Helden zu tun, aber Sunil kam partout nicht dahinter. Als er aus dem dunklen Kino

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