Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
stehen. Die Stadtverwaltung lieferte Wasser an sechs Zapfstellen, anderthalb Stunden morgens und anderthalb Stunden abends. Ein paar Männer aus der Shiv Sena hatten sich die Pumpen unter den Nagel gerissen und kassierten Zapfgebühren von ihren eigenen Nachbarn. Die Wasser-Wucherer waren äußerst unbeliebt, wenn auch nicht ganz so wie dieser World-Vision-Derserteur, ein Sozialarbeiter, der bei den Annawadiern für eine neue Pumpe gesammelt hatte und mit dem Geld abgehauen war.
Um zehn waren die Nacken- und Achselpartien von Ashas Sari-Bluse klatschnass, aber sie hatte endlich Subhash Sawants Fahrer ans Telefon gekriegt. »Er ist auf dem Weg«, erklärte sie, dann stimmte sie mit allen Wartenden ein Gebet an, so konnte der Bezirksrat gleich bei der Ankunft seine Annawadier in tiefer Andacht vorfinden.
Um elf war er immer noch nicht da. Asha winkte ihrer Tochter. »Bring das Essen.« Eigentlich hatten die Sachen, die Manju zubereitet hatte, nach der Zeremonie verzehrt werden sollen, aber inzwischen verließen die Ersten den Tempel, und weder der Bezirksrat noch sein Fahrer gingen ans Telefon.
Wer wegen einer Zeremonie gekommen war, aß und ging nach Hause, im Tempel blieb nur ein Dutzend Leute, zumeist hackevolle Trottel. Asha entglitten die Gesichtszüge.
Die anderen, die gegangen waren, hatten ihr vorgeworfen, sie habe ihr Wort gebrochen, den Bezirksrat zu holen. Noch schlimmer war, dass Subhash Sawant ein Nachtmensch war und, wenn er endlich käme, einen leeren Tempel vorfinden würde. Das Ganze war eine Katastrophe, und die würde allein ihr angelastet werden. Bestimmt kam dann wieder dieses Lächeln von ihm, hinter dem sich kaum erkennbar eine Beleidigung verbarg. Bestimmt erklärte er ihr, sie werde von den Bewohnern nicht respektiert, Annawadi sei noch nicht reif für einen weiblichen Slumlord. Und garantiert erwähnte er, wie viele Leute in wie vielen anderen Slums sich zu einem ach so erfolgreichen Abend eingefunden hatten.
Während Asha ihrer Tochter die bitteren wahrscheinlichen Folgen ausmalte, schlenderte ein bildschöner junger Eunuch durch Annawadi. In einem lichterglitzernden leeren Tempel entdeckte er einen Trommler, der untätig dasaß, ging hinein und fing an zu tanzen.
Der Eunuch hatte dicke lange Locken, lange Wimpern bis an die Augenbrauen, Blechreifen an den Handgelenken und schwang die Hüften zuerst noch sanft. Er streckte die Arme aus, der Körper blieb reglos wie eine Statue, nur die Beine wurden immer glibberiger. Der Trommler erwachte wieder zum Leben. Manju fiel die Kinnlade herunter. Es sah aus, als ob der Ober- und der Unterkörper des Eunuchen verschiedenen Betriebssystemen gehorchten. Er hielt kurz inne und nahm eine Votivkerze zwischen die Zähne, dann ließ er sich in eine Drehung fallen, bei der die Flamme verlosch.
Die
hijras
von Mumbai waren so gefürchtet wie fetischisiert. Eunuchen mit ihrer sexuellen Zweideutigkeit erlebten so viel Unheil, dass sie als ansteckende Unheilbringer galten. Wenn
hijras
vor der Tür standen, musste man ihnen Geld geben, damit sie wieder gingen. Und wenn man wollte, dass sie einem Widersacher eine Kokosnuss vor die Füße schmissen, gab man ihnen etwas mehr. Sobald die Kokosnuss gelandet war, klebte der böse Blick an diesem Mann, auch wenn der einen
baba
kommen und drei Weihrauchstäbchen abbrennen ließ, in einem Glas voll Reis mit einem Hauch Zinnoberpulver obendrauf.
Sechs
hijras
lebten in Annawadi, und das harte Leben stand ihnen ins schminkeverschmierte Gesicht geschrieben. Ein paar von ihnen kamen jetzt auch in den Tempel. Der junge Eunuch war kein Einheimischer, er war makellos und seine Weiblichkeit kein Ergebnis von Kleidung und Lippenstift, sondern von irgendetwas Unbeschreiblichem in seinem Gesicht. Er wollte auch kein Geld, um wieder zu gehen. Inzwischen wirbelte er so schnell herum, dass seine Locken wie Perpendikel hin und her schwangen und seine Schweißtropfen den Slumbewohnern, die wie verzaubert in den Tempel zurückgekommen waren, ins Gesicht spritzten.
Er ging in den Vierfüßerstand, machte abwechselnd einen Buckel und reckte den Hintern hoch, dann sang er einen klaren hohen Ton und ließ ihn in seinen ruckartigen Bewegungen nachklingen. Er hieß Suraj und war achtzehn. Ashas Sohn Rahul hatte als Einziger sofort den Verdacht: In der engen Jeans steckte ein intakter Mann. Suraj hatte einfach nur, seit er sich erinnern konnte, das Gefühl, zu drei Vierteln ein Mädchen und zu einem Viertel ein Junge zu sein, was seiner
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