Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Mutter und seinen Schwestern das Herz gebrochen hatte. Jetzt tingelte er für ein bisschen Trinkgeld durch die Slums und tanzte so wild, dass er Darmprobleme bekam. Und er versuchte, genau wie Asha, sich im Wahlbezirk 76 einen Namen zu machen.
Zwei Frauen drängelten sich bis zu ihm vor, wirbelten mit ihm herum und waren bald nur noch verschwommene rote und grüne Kurven. Plötzlich brach der Eunuch auf dem Boden zusammen. Die Zuschauer hielten den Atem an, befürchteten einen Anfall, aber gleich darauf verkündete er, eine Göttin sei mit einer Botschaft in ihn gefahren. »Yellama sagt, bringt ihr ein Blatt vom Niembaum, und sie beantwortet eure Fragen nach der Zukunft!«
Asha runzelte die Stirn. Wenn jetzt Subhash Sawant käme und den Auftritt hier sähe! Andererseits, beschloss sie, besser das als ein leerer Tempel. Immer mehr Leute strömten herbei und hüpften hoch, um über die Köpfe der anderen hinweg einen Blick auf den
hijra
zu erhaschen. Jetzt kamen auch die Straßenjungen dazu und sogar der Puffbesitzer mitsamt Freiern. Die Söhne von Robert, dem Zebrakümmerer, setzten auf dem Maidan zwei Autoreifen in Brand, was die ganze Aufregung noch anheizte, und drinnen im Tempel wurde die Göttin, die dem Eunuchen in die Seele gefahren war, mit Fragen bestürmt.
»Soll ich ein Darlehen aufnehmen, um mein Haus zu reparieren?« – »Soll ich dem Mann, der mir angeblich einen Job beschaffen kann, Geld geben?« – »Wovon soll ich die Hochzeit meiner Tochter bezahlen?« – »Was wird mein Sohn mal werden?« Es gab ein paar Fragen zu Kindern und ihren Prüfungschancen, eine zu einer Herzklappe und viele zur Flughafenbehörde. »Wann werden diese Flughafenleute unsere Häuser niederreißen?« Vielleicht wusste diese Göttin ja mehr als Bezirksrat Subhash Sawant.
Dass aus dem Mund des Eunuchen nur Kauderwelsch kam oder die Göttin in Zungen redete, die niemand verstand, fiel nicht weiter auf. Allein diese Stimme, ob sie nun der Göttin oder dem Eunuchen gehörte, war hypnotisierend und fühlte sich an wie der Segen selbst.
Inzwischen schrien die Leute ihre Fragen. Und das Geschrei drang auch bis in die Hütte der Husains auf der anderen Seite des Maidans.
»Was ist das denn! Können die nicht endlich die Klappe halten?«, stöhnte Mirchi laut auf und ließ die Stirn aufs Mathebuch sinken. Wie sollte er so für die Prüfung lernen? Sein Vater lief ständig auf und ab und verfluchte den Bezirksrat und sämtliche Hindus von Annawadi. »Diese arbeitsscheuen Götzendiener, die hauen uns schon an hundert Feiertagen im Jahr ihren Krach um die Ohren, dabei ist heute nicht mal ein Feiertag, aber die haben völlig den Verstand verloren, bloß wegen so ’nem tanzenden – Freak.«
Nur vier Türen vom Tempel entfernt lebte Prakash. Er war einundzwanzig und von allen Schülern am weitesten vorangekommen, jetzt saß er zu Hause mit einem Lehrbuch für Betriebswirtschaft auf dem Schoß und schlug die Hände vors Gesicht. Zwei Tränen rollten durch die Finger. Die alles entscheidende letzte Prüfung vor dem Collegezeugnis – sabotiert von einem herumwirbelnden Eunuchen. Bei der erstbesten Gelegenheit würde er nach Bangalore flüchten, dort hatte man bestimmt mehr Achtung vor Akademikern.
Um ein Uhr nachts ging der Bezirksrat endlich ans Telefon. Er schaffe es nicht mehr, er sitze noch bei wichtigeren Leuten fest. Aber er war sehr zufrieden mit Asha, denn er vermutete, der grandiose Radau, den er durchs Telefon mitbekam, komme daher, dass ganz Annawadi ihm zu Ehren auf den Beinen war.
Ashas Glückssträhne hielt also an. »Komm jetzt nach Hause«, sagte sie zu Manju.
»Komme«, antwortete Manju zerstreut und stierte weiter auf den schweißnassen Eunuchen. »Aber weißt du, Mutter? So was habe ich im ganzen Leben noch nicht gesehen.«
Die Annawadier waren sich einig, dass Manju für ihr Aussehen, die politischen Beziehungen ihrer Mutter und ihren eigenen strapaziösen Stundenplan ausgesprochen nett war. Morgens ging sie aufs College. Nachmittags gab sie Unterricht in der einzigen Schule des Slums, in der Familienhütte. Den Rest des Tages kümmerte sie sich um Essen, Putzen, Wasserholen und Wäschewaschen für den Fünf-Personen-Haushalt. Mit nur vier Stunden Schlaf pro Nacht schaffte sie das ganze Pensum, meistens ohne dass es ihr aufs Gemüt schlug. In diesem Frühjahr allerdings stellten Infektionen und Fieberschübe ihre Fassung gleich serienweise auf die Probe.
Asha war besorgt, dass ihre Tochter langsam
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