Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Slums seines Bezirks, um persönlich die Huldigungen seines Wahlvolks entgegenzunehmen, in der Hoffnung, damit gewisse Diskrepanzen in den Akten vergessen zu machen.
Nächste Station Annawadi. Für den hohen Besuch sollten Asha und Manju die Slumbewohner in einem pinkrosa Tempel beim Klärteich zusammentrommeln, wo sie alle gemeinsam mit dem Bezirksrat für seinen Sieg vor Gericht beten würden.
Asha zuckte zusammen, als sie den Auftrag bekam. Es war die Zeit der Klassenarbeiten, da kamen Eltern nur ungern aus ihren Hütten, denn die Gefahr bestand, dass ihre Kinder die Schulbücher zuklappten. Asha musste ihre ganze Überzeugungskraft aufbieten, um eine ansehnliche Menge zusammenzubringen.
Am vorgesehenen Tag hielt Subhash Sawant bei Sonnenuntergang Einzug in Annawadi: in einem makellosen weißen Safarianzug sowie in Begleitung seiner Entourage. Sunil und die anderen Müllsucher sahen von weitem zu. Der Bezirksrat schritt in diesem Polizistengang daher – breitbeinig, als wären seine Schenkel für normale Schritte zu muskulös. Und seine Haare waren so ölig, dass man darin Knoblauch hätte schmoren können.
Der Bezirksrat lobte das Poori Bhaji, das Manju und ihre Mutter für die Zeremonie zubereitet hatten. Auch wie sie den kleinen, nur mit einem alten Stahlschultisch möblierten Tempel geschmückt hatten, fand sein Gefallen. Die tamilischen Bauarbeiter, die Annawadi besiedelt hatten und zu denen auch Ashas Eltern gehörten, hatten das Tempelchen einst gebaut und Mariamma geweiht, der Schutzgöttin gegen Seuchen. Mit Subhash Sawants Zustimmung hatte Asha ihren Teil dazu beigetragen, dass sich die gebürtigen Maharashtrianer den pinkrosa Tempel unter den Nagel reißen konnten, seitdem blieb er die meisten Tage verschlossen. Heute Nachmittag hatten Meena und Manju ihn gründlich geputzt. Die toten Fliegen und Rattenkötel waren verschwunden, die neuen Götterbilder glänzten wieder.
»Ruf die Leute zusammen, nach dem Essen komme ich wieder und halte eine Rede«, sagte der Bezirksrat zu Asha, bevor er samt seiner Entourage in mehreren SUVs entschwand. Um acht läutete sie die Tempelglocke, und kurz danach war der Raum rappelvoll. Ein Tablaspieler trommelte leise vor sich hin, Asha suchte sich einen Platz am Schultisch, die goldene Bordüre an ihrem besten Sari reflektierte die Flämmchen von Dutzenden Votivkerzen.
Fast alle im Tempel, auch Asha, stammten wirklich aus einer niederen Kaste. Und die meisten waren genau die Zuwanderer, die die Shiv Sena aus Mumbai vertreiben wollte. Trotzdem waren sie gekommen, nicht nur aus Furcht, Asha zu erzürnen, sondern weil sie an ihren Bezirksrat glaubten.
Die Annawadier wussten durchaus, wie korrupt Subhash Sawant war. Sie waren auch sicher, dass er den Kastennachweis gefälscht hatte. »Aber er ist der Einzige«, fanden sie, »der überhaupt mal kommt und sich hier blicken lässt.«
Vor jeder Wahl hatte er Geld von der Stadt lockergemacht oder die freigiebige World Vision angezapft, eine berühmte christlich-amerikanische Hilfsorganisation, und davon den Annawadiern ein bisschen Komfort spendiert: das öffentliche Klo, den Fahnenmast, Rinnsteine, den Betonsockel am Klärteich, auf dem er bei seinen Besuchen zu stehen pflegte. Und bei jedem Besuch erzählte er den Menschen im Slum, wie hartnäckig er dafür kämpfte, die Bulldozer fernzuhalten, die 2001 und 2004 im Namen der Flughafenbetreiber schon etliche Hütten abgerissen hatten. Auf der großen Bühne des Flughafenmodernisierungs- und Stadtverwaltungstheaters spielte der Bezirksrat bloß eine Nebenrolle, war nur ein Lückenbüßer. Aber im politischen Weltbild der Annawadier überragte er selbst den indischen Premierminister bei weitem. Er brauchte ihre Stimmen, und sie brauchten den Glauben an seine Macht als ihr Beschützer.
»Wann kommt er denn?«, fragten die Leute.
»Bald«, versprach Asha.
Im rappelvollen Tempel roch es allmählich streng nach Schweiß. In Slums sogen alle Gebäude, auch Tempel, die Hitze der Stadt in sich auf und hielten sie fest. In der ersten Stunde wurde die Qual noch stumm ertragen. In der nächsten lud sich der Tempel langsam mit Seufzern auf.
Zeit war kostbar für Annawadier, auch für die, die keinen Extradruck durch Kinder und deren Schulprüfungen hatten. Sie hatten seit dem Morgengrauen gearbeitet, hatten noch Hütten zu putzen, Kinder zu baden und vor allem Wasser aus den tröpfelnden Pumpen des Slums zu holen, bevor die völlig versiegten, und das hieß stundenlang Schlange
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