Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Dieser Kulkarni dagegen schenkte sie einen tränennassen Blick, Ausdruck ihrer tiefsten Dankbarkeit für den Rat der Polizistin, diese Nachbarin mal richtig zu verprügeln. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Tasse Tee mit Milch zu.
In Annawadi dämmerte es, und Kehkashan kochte vor Zorn. Sie saß auf dem Maidan, starrte auf die familiären Besitztümer und sah zu, wie ihre Brüder panisch Zement schaufelten, um fertig zu werden, bevor die Polizei aufkreuzte und Geld haben wollte. Sie konnte auch Fatima sehen, ihre Tür stand offen, und Fatima wiegte sich vor einem voll aufgedrehten Kassettenrecorder auf ihren Krücken zur Musik aus Hindifilmen. Kaum von der Polizei zurück, hatte sie sich noch greller aufgemacht als sonst: Auf der Stirn glitzerte ein Bindi, die Augen waren kajalschwarz umrahmt, die Lippen knallrot. Sie sah aus wie kurz vor einem Bühnenauftritt.
Kehkashan konnte den Mund nicht halten. »Meine Mutter sitzt bei der Polizei fest, weil du da lauter Lügen erzählt hast, und du takelst dich auf und tanzt hier rum wie so ’n Filmstar?«
Und damit begann die nächste Keilerei auf dem Maidan.
»Du Flittchen, dich krieg ich auch noch in ’ne Zelle«, schrie Fatima. »Ich lass nicht locker – ich reite deine ganze Familie in die Scheiße!«
»Reicht dir das, was du getan hast, noch nicht? Lässt meine Mutter festnehmen! Dafür müsste ich dir das andere Bein auch noch ausrenken!«
Die Nachbarn strömten zusammen zur nächsten lebhaften
tamasha.
Niemand hatte Kehkashan je wütend erlebt, normalerweise war sie die Vermittlerin, wenn sich die Frauen stritten. Jetzt hatte sie funkelnde, tränenglitzernde Augen und sah aus wie Parvati in der Seifenoper
Kahaani Ghar Ghar Ki.
»Kannst mir das Bein ruhig ausrenken, ich mach noch was ganz anderes mit dir«, konterte Fatima. »Du bist doch angeblich verheiratet, wo ist ’n dein Mann? Hat wohl spitzgekriegt, dass du mit andern Männern rumhurst, was?«
Als Karam hörte, dass die Tugend seiner Tochter in den Dreck gezogen wurde, kam er heraus. Aber als Hure bezeichnet zu werden war nicht Kehkashans Hauptproblem.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fauchte sie ihren Vater an. »Fast Nacht, und Mutter ist noch immer bei der Polizei.«
»Los lauf hin und guck, ob mit deiner Mutter alles in Ordnung ist«, sagt Karam zu Mirchi. Zu Fatima sagte er: »Hör zu, du Bettlerin. Wir bringen die Arbeit hier zu Ende, und danach geht jeder dem anderen aus dem Weg, ein für alle Mal.«
In der Hütte schaufelte Abdul Ziegelbruch in einen Sack, die Steinplatte war endlich eingebaut. Seit Tagen hatte er sich ausgemalt, wie sehr sich seine Mutter über ihre fertige Arbeitsfläche freuen würde. Stattdessen saß sie jetzt in Polizeigewahrsam. Noch bestand der Fußboden halb aus Trümmern, halb aus feuchtem Zement und harrte der Fliesen, die sein Vater noch immer nicht gekauft hatte. Den Raten-Fernseher hatte der Sohn des Puffbesitzers, bei dem sie ihn untergestellt hatten, kaputtgekriegt. Abduls kleinere Geschwister waren verängstigt wegen all des Geschreis, und sein Vater schien beim Anblick der Ruine, die sein Zuhause war, den Verstand zu verlieren.
Plötzlich stürmte Karam zu Fatimas Tür. »Du Hohlkopf!«, brüllte er. »Du hast gelogen, du hast erzählt, meine Frau hat dich geschlagen. Ich zeig dir jetzt mal, wie das ist, wenn man wirklich geschlagen wird!«
Dann überlegte er, nein, nicht er würde es ihr zeigen.
»Abdul«, rief er, »komm her, schlag du sie!«
Abdul erstarrte. Er hatte seinem Vater ein Leben lang gehorcht, aber eine behinderte Frau schlagen, nein, nicht mit ihm. Zum Glück ging Kehkashan dazwischen. »Jetzt beruhig dich, Vater«, befahl sie. »Mutter regelt das, wenn sie wieder hier ist!« Sie wusste genau, wer im Krisenfall das Familienoberhaupt war.
Sie schob Karam wieder in die Hütte, aber er rief über die Schulter: »Einbein, sag deinem Mann, wenn das eure Art von Dank für unsere jahrelange Freundlichkeit ist, dann will ich die Hälfte von dem, was die Wand hier gekostet hat, wiederhaben.«
Mirchi war bald zurück von seiner Aufklärungstour: Zehrunisa saß anscheinend unversehrt in aller Ruhe zusammen mit einer Polizistin zusammen. Kehkashan war erleichtert und machte sich ans Essen.
Um diese Abendstunde brannten in ganz Annawadi die Kochstellen, und die Schmordünste stiegen auf und türmten sich zu einer riesigen Rauchsäule über dem Slum. Im Hyatt-Hotel riefen dann bald die ersten Gäste aus den oberen Etagen in
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